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Sieben Tage sind seitdem vergangen und ich habe an jedem einzelnen an ihre Worte gedacht. In der ersten Nacht lag ich wach und dachte über ihren Traum nach. Lilly hatte viele Träume, doch es musste eine Sache geben, die sie über all die Jahre nicht vergessen hatte. 

Ich war mir sicher, dass sie es mir gesagt haben musste, doch ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, was mich schmerzte und wofür ich mich schämte. 

Wie konnte ich den größten Traum meiner verstorbenen Frau vergessen? 

Das durfte nicht sein, also stand ich auf und suchte das ganze Haus ab. Ich durchforschte jeden einzelnen Winkel und stieß um sechs Uhr morgens, nach einer drei Stunden dauernden Suche, darauf. Es war eine Urlaubskarte aus Argentinien. 

Ihr Onkel väterlicherseits, zu dem Lilly ein sehr enges Verhältnis hatte, schickte ihr diese Karte und schrieb einen Satz auf die Rückseite.

Der Ort deiner Träume, dort, wo man wirklich frei sein kann.

Ich habe diesen Satz gelesen und wusste, dass Lilly nur das meinen konnte. So entschlossen, wie noch nie in meinem Leben buchte ich den nächsten Flug nach Buenos Aires und nun stehe ich, sechs Tage später, am Flughafen und warte darauf das mein Flug aufgerufen wird. 

In mir wütet eine Aufregung, die ich noch nie gespürt habe. Vorfreude vermischt mit Angst. Sie hätte mir in den Bauch gezwickt und gelacht, aber sie hätte auch Verständnis gehabt. Lilly war die gütigste Person, die ich kannte. Sie hatte nie jemanden verurteilt, oder ihn beleidigt. 

Für Lilly zählte stets immer das, was an Gutes in jedem Menschen steckte. Und das liebte ich so sehr an ihr. 

Die blecherne Stimme der Durchsage reißt mich aus meinen Erinnerungen heraus, blinzelnd setze ich mich in Bewegung und reihe mich in die Schlange ein. Je näher ich dem Flugzeug komme, desto schneller schlägt mein Herz und erinnert mich an unseren ersten gemeinsamen Flug. Damals war unser Ziel Venedig, die Stadt der Liebe.

***

„Was hast du?", fragt sie lächelnd. Wie versteinert stehe ich daund weiß nicht was ich sagen soll. Der Knoten in meinem Magen zieht sich festerzusammen, als ich an den Start der Maschine, die uns nach Venedig bringen soll,denke. 

Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und schaue Lilly an. Ihre Haare lockensich um das zierliche Gesicht und geben den perfekten Rahmen für ihre großen, braunenAugen.
„Hast du etwa Angst?", hakt sie nach. 

Sie sieht mich besorgt an, dasLächeln ist weg und ein ernster Zug hat sich um ihre vollen Lippen gelegt. Ichnicke, denn belügen würde ich sie niemals. Dafür ist sie mir zu wichtig und dasletzte Jahr war einfach fantastisch. Nie wieder würde ich diese Frau verlassen.Ich würde mir eher das Herz aus der Brust reißen, als sie zu verlassen.

„Hey", flüstert sie und schlingt ihre Arme um mich, kuschelt ihrGesicht an meine Brust und schaut mich von unten herauf an. Dabei lächelt sie,sodass die kleinen Grübchen an den Wangen zum Vorschein kommen. Das Lichtbricht sich in den großen Fenstern und zaubert einen Heiligenschein über ihremKopf, dem sie mehr als gerecht wird.

„Ich bin bei dir. Es wird alles gut gehen", sagt sie mit fester Stimmeund stellt sich auf die Zehenspitzen, um mich zu küssen. Doch ich halte sie aufund lege meine Hände um ihr Gesicht, betrachte sie und spüre wieder diesesGlücksgefühl, welches mich immer erfasst, wenn ich sie sehe.

„Ich liebe dich Lilly", sage ich aufgewühlt. Sie lächelt und streicheltmir mit dem Daumen über die Wange, dabei schließt sie die Augen und küsst mich.Ich umfasse sie fester, presse sie an mich und lege all meine Liebe und Hingabein diesen Kuss. Der nicht schöner hätte sein können und doch wird er von derDurchsage unterbrochen, die unseren Flug aufruft.

„Scheint so, als würden wir das später fortsetzen müssen", kichert sieund hakt sich bei mir ein. Zusammen gehen wir zum Gate und betretenanschließend die Maschine. Als wir an unseren Plätzen sitzen, dreht sie ihrenKopf zu mir und sieht mich voller Güte an.

„Ich bin bei dir." Ihre Worte in den Ohren schnalle ich mich an undatme tief durch. Meine Flugangst ist nicht berechtigt, aber da. Noch nie istetwas passiert, aber jedes Mal, wenn es darum ging irgendwohin zu fliegen, habeich mich davor gedrückt. 

Woher diese Angst kommt, weiß ich nicht, aber mitLilly an meiner Seite kann ich alles schaffen. Weil Liebe dir die Flügel gibt,um jede noch so große Distanz zu überwinden. 

Die Sein ReiheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt