Alexander und die Schönheit eines Augenblicks

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"Ich habe ewig nicht auf Schlittschuhen gestanden", sage ich leise. Meine Schwester steht neben mir und ihr Grinsen ist schon fast unheimlich. Früher, als Kinder, haben wir uns jeden Winter früh aus dem Haus geschlichen und sind in das kleine Wäldchen nahe unserem Heim gelaufen. Bepackt mit Schlittschuhen, die Hände umhüllt von warmen Handschuhen, ein selbstgestrickter Schal mit passender Mütze, schützte uns vor der eisigen Kälte. Wir genossen solange die Freiheit und unbeschwerte Ausgelassenheit, bis unser Vater mit hochrotem Kopf und wild zerzausten Haaren durch den tiefen Schnee gestampft und am Rande des zugefrorenen Sees zum Stehen kam. Noch heute sehe ich ihn vor mir. Seine Füße steckten in schweren schwarzen Stiefeln, der Pyjama wurde von dem gleichen navygrünen Parka verdeckt wie auch Raphael ihn heute trägt. Kleine Wölkchen von verdampfendem Atem stiegen an den Seiten seiner Nasenflügel empor und die kräftige Stimme schallte über den See und verhallte in den Bergen hinter uns.

Unsere Eltern haben Izzy und mir immer verboten alleine das Eis zu betreten. Zu groß war die Angst, dass die Kälte nicht ausreichte und das gefrorene Wasser unser junges Gewicht nicht trug. Mit von der Kälte geröteten Wangen und einer Nase so rot wie die von Rudolph, glitten wir reuevoll an den Rand des Sees und Dad zog uns erleichtert in seine starken Arme. Wir wussten das sie sich Sorgen machten, immer. Aber als Kinder waren wir naiv und vertrauten auf eine höhere Macht welche uns beschützen sollte. Die darauf folgende Standpauke ließen wir jedes Mal über uns ergehen. Heute, als erwachsene Individuen, begleitet mich das schlechte Gewissen unseren Eltern solch einen Kummer bereitet zu haben. Sie waren immer für uns da, verurteilten nicht, bestimmten nicht, gaben Kraft und Halt und den Weg in eine sichere Zukunft.

"Woran denkst du Alec?", fragt Izzy und drückt leicht meine Hand. Ich stehe noch immer am Rand der Eisfläche und klammere mich in die Umrandung. Es ist schon surreal, war es doch früher unsere liebste Winterbeschäftigung.
"An Dad und wie er uns immer vom Eis geholt hat", antworte ich. Izzy lächelt liebevoll und auch sie hat das gleiche Bild wie ich vor Augen.
"Wir konnten fast die Uhr nach ihm stellen. Zum Glück hat er uns nie ganz verboten aufs Eis zu gehen."
"Auch wenn er sich jedes Mal fast die Finger abgefroren hat", sage ich lachend.
"Und Mom Piruetten drehend und mit wehendem Haar lachend an uns vorbei zog", erinnere ich mich. Izzy nickt und ihre Augen glänzen verdächtig. Ich schlucke trocken und sehe aus dem Augenwinkel Clary die Charlotte an den Händen haltend über die Eisfläche führt.

Die Atmosphäre ist einfach wunderbar. Ich bin so froh, dass mein Kollege Andrew bereitwillig unsere Schichten getauscht hat. So habe ich die Möglichkeit meinen freien Tag im WinterWunderLand anstatt der überfüllten Notaufnahme zu verbringen. Und der versprochene Kaffee als kleine Gegenleistung, ist keine große Sache. Andrew ist nett und er sieht gut aus. Ein Latte Macchiato in dem kleinen schnuckeligen Cafe gegenüber des Krankenhauses ist noch lange kein Date. Auch wenn ich vermute, dass Andrew das anders sieht. Aber alles zu seiner Zeit. Charlotte freut sich bereits seit Tagen auf das Schlittschuhlaufen. Natürlich musste ich ihr auch einen Tanz auf dem Eis versprechen. Nur war mir nicht klar, dass die jahrelange Abstinenz auf Kufen so deutlich zu spüren ist. Von wegen das ist wie Fahrrad fahren. Ich fühle mich, als hätte ich sechs Beine und alle wären unterschiedlich lang. Dazu mein beschleunigter Herzschlag und der Apfelpunsch welchen ich zum aufwärmen und Wartezeit verkürzen getrunken habe tragen ihren Teil dazu bei.

"Na komm schon großer Bruder. Trau dich", sagt Izzy lachend und zieht mich ruckartig auf das Eis. Mein Griff ist nicht mehr ganz so fest und so lasse ich mich bereitwillig auf die Rutschbahn meiner Kindheit ziehen. Eine Horde lärmender Teenager zieht an uns vorbei, der Windhauch reicht nicht annähernd um mich ins Straucheln zu bringen. Aber die Sorge um den älteren Herren neben mir, der laut fluchend den Jungs hinterher blickt schon eher. Kurz sah es so aus als würde er vornüber fallen. Trotz seines hohen Alters funktioniert sein Gleichgewichtssinn besser als der meine. Die ruckartige Drehung des Kopfes veranlasste meinen Körper in die gleiche Richtung zu wollen. Jedoch kam der Befehl zu spät bei den Beinen an. Panisch blicke ich zu Izzy und rudere wie wild mit den Armen. Ich sehe mich schon mit meinem Hintern auf die harte Eisfläche prallen. Die Erinnerungen an unschöne Stürze, einem damit verbundenen schmerzenden Hinterteil und einem gebrochenen Handgelenk durchfluten meine Gedanken. Ich schaffe es gerade so den Sturz zu verhindern, Hitze durchflutet meinen Körper, Adrenalin schießt direkt in mein Herz und erhöht die Schläge um ein vielfaches. Mit wild klopfendem Herzen kralle ich mich in den roten Wollstoff von Izzys Mantel.

"Immer noch so grazil wie ein Oktopus auf Schlittschuhen", kichert Izzy und kann das spöttische Grinsen nicht länger verbergen. Aber das ist schnell verflogen und übrig bleibt das liebevolle Lächeln mit den strahlenden Augen meiner Schwester. Lachend schüttele ich den Kopf und lasse meinen Gefühlen freien Lauf. Es war meine Mutter die einst diesen Satz zu unserem Vater sagte. Die Erinnerung daran ist gerade so präsent, ebenso sein erschütterter Ausdruck auf dem Gesicht. Ich lache aus tiefstem Herzen und lege meinen Kopf in den Nacken. Noch immer kralle ich mich in die Arme meiner Schwester und blinzele über das helle strahlende Funkeln der Lichter des Weihnachtsbaumes. Sternenmeer haben wir es früher immer genannt. Eine Träne der Freude verlässt meine Augen, perlt langsam über die kalte Haut. Sie hinterlässt eine feuchte Spur, der Rinnsal bleibt aus, aber das Kribbeln wenn die Nässe sich zur salzigen Kruste wandelt, setzt sogleich ein.

"Das du dich daran noch erinnerst", sage ich lachend.
"Natürlich. Für wie senil hälst du mich?", antwortet sie gespielt entrüstet. Es ist nicht das erste Mal, dass ich diese sarkastische Antwort bekomme. Izzy und ich haben ein sehr gutes und besonderes Verhältnis. Viele Jahre gab es nur uns. Und diese Jahre der Zweisamkeit möchte ich unter keinen Umständen missen. Doch als Jace in mein Leben trat, erhellte sich die Finsternis und ich fühlte mich weniger allein. Jedes Jahr an unserem Geburtstag, hatten wir einen Wunsch frei. Oft waren es belanglose Dinge wie eine extra Runde unserer Lieblingsfernsehserie oder Eis zum Frühstück statt Müsli mit Früchten. Einmal wünschte sich Izzy einen Besuch im Disneyland Paris. Bis heute ging ihr Wunsch nicht in Erfüllung. An meinem zwölften Geburtstag sprach ich meinen bis dahin sehnlichsten Wunsch aus. Mom stockte der Atem und Dad starrte minutenlang auf die hölzerne Platte des alten Esstisches. Eine gigantische Geburtstagstorte, dunkle Schokolade umhüllt von blauen Perlen und bereits erloschenen Kerzen stand in der Mitte und wartete auf deren Verzehr. Wie jedes Jahr und so auch diesmal. Doch statt dem Wettstreit um das größte Stück der zuckrig süßen Köstlichkeit, entbrannte eine hitzige Diskussion über das Für und Wider meines Wunsches. Noch heute höre ich die aufgebrachten Stimmen meiner Eltern und mich, leise schluchzend am Ende der festlich geschmückten Tafel.

Mein sehnlichster Wunsch ging in Erfüllung. Ich wechselte vom Privatunterricht Zuhause auf die Highschool in unserer Stadt. Jonathan Christopher Herondale führte mich an meinem ersten Tag durch die Schule und wich mir seitdem nicht mehr von der Seite. Bis zu seinem Tod war er mein bester Freund und Bruder. Ihm verdanke ich ein Leben in Freiheit als schwul geouteter Mann, der sich nie schämen musste für das was er ist.
"Bist du schon wieder in der Vergangenheit?", fragt Izzy leise und ertappt mich somit in einem schwachen Moment. Sie kennt mich einfach zu gut als das ich ihr etwas vormachen könnte.
"Vielleicht", antworte ich ausweichend. Izzy zieht ihre perfekt in Form gebrachten Augenbrauen weit in die Stirn und seufzt.
"Ach Alec. Du musst nach vorne schauen. Sonst wird das nie was mit der Hochzeit in weiß und dem Regenbogen über deinem Wuschelkopf", sagt sie und ich lasse meinen Blick über die fröhliche Menschenmenge gleiten. Unterschiedliche Menschen verschiedener Religionen und Geschlechter versammeln sich zu einem gemeinsamen Tanz unter den Lichtern des strahlenden Weihnachtsbaumes.

Das WinterWunderLand leuchtet in den schönsten Farben und beim Anblick des Mannes auf der anderen Seite des Eislauffläche setzt mein Herz ein paar Takte aus. Geräuschvoll atme ich die angehaltene Luft aus und kralle mich verzweifelt in den warmen Stoff von Izzys Mantel. In einer Stadt wie New York, mit Millionen Einwohnern und ohne jeglichen Anhaltspunkt ist es unmöglich eine bestimmte Person zu finden. Es grenzt schon fast an ein Wunder, dass der schöne unbekannte Mann ausgerechnet heute mit seiner Kamera bewaffnet im Central Park auftaucht. Unschlüssig stehe ich hier und starre ihn an. Mein Kopf ist leer, dass einzige was ich registriere ist die Reflexion des Objektives, genauso wie beim letzten Mal. Unermüdlich klickt der Auslöser, konserviert die Bilder eines unvergesslichen Momentes für die Ewigkeit. Das Geräusch der Kamera wird übertönt von den aufgeregten Rufen meiner Patentochter. Widerwillig wende ich meinen Blick ab und richte die gesamte Aufmerksamkeit auf Charlotte. Jedoch bleibt ein Gedanke tief verankert in den hintersten Ecken meines Unterbewusstsein. 'Wer ist er?'

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