05. Dezember

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»Notversorgung«

Taehyung konnte tatsächlich das Motorrad fahren. Trotzdem vertraute Jimin dem Gefährt nicht. Oder war es doch Taehyung, dem er nicht traute? Es kam am Ende sowieso auf das Selbe hinaus. Nämlich darauf, dass Jimin sich wie ein Ertrinkender an die Jacke seines Freundes klammerte und dabei wild mit den Zähnen klapperte. Weil der Zugwind klirrend kalt war, nicht weil er Angst hatte zu früh zu sterben.

Es war nicht gerade ein Leichtes, einen Weg durch die verschneiten Straßen zu finden. Meistens hatten die ferngesteuerten Schneepflüge es immer noch nicht geschafft, den Schnee dorthin zu räumen, wo er hingehörte. Nämlich nicht auf die Straßen, sondern daneben.

Hatte Taehyung endlich eine freie Gasse gefunden, herrschte auf ihr ein noch größeres Chaos als das, das Jimin gestern Abend in den Nachrichten gesehen hatte. Die selbstfahrenden Autos standen noch immer da, wie bestellt und nicht abgeholt. Womöglich war auch gerade dies der Fall. Die wütenden Menschen waren mittlerweile fort. Ein Glück, sonst hätte Taehyung sie wohl mit seinem schlitternden Fahrstil gleich auch noch mitgenommen, wo auch immer er hinfuhr.

Jimin war sich mittlerweile sicher, dass es ein Fehler war, seinem Freund auf das Dach zu folgen. Er hätte einfach weiter auf der Couch sitzen bleiben und die Metropole in Endzeitstimmung von Weitem betrachten sollen. Aus sicherer Entfernung. Wo es warm war.

Ab und zu erhaschte er einen Blick auf die Anzeige des Energievorrats und stellte mit Erschrecken fest, dass die leuchtenden Ziffern sich immer weiter der Null näherten.
"Taehyung!", rief er seinem Fahrer durch Helm und Wind entgegen.
"Was ist?!" Taehyung drehte sich halb zu ihm um, sodass Jimin schon seinen baldigen Tod vor Augen hatte, weil sie gegen irgendeinen gläsernen Turm fuhren.

"Taehyung, schau auf die Straße!", schrie er hysterisch und klammerte sich noch fester an die Jacke. Tatsächlich drehte sich der todesmutige Fahrer um, nicht ohne sehr offensichtlich die Augen zu vertrauen. So, dass es Jimin auch noch durch den Helm sehen konnte.

"Was ist denn jetzt?", rief Taehyung ihm dennoch zu. Beinahe hätte Jimin vergessen, was er ihm ursprünglich sagen wollte. 
"Wir haben fast keinen Strom mehr!"
"Ich weiß." Aus seiner Stimme konnte man eindeutig ein Lachen heraushören, das Jimin überhaupt nicht gefiel.
"Wir halten gleich an", war das Letzte, was er sagte. Die restliche Fahrt über brachte Jimin kein Wort mehr heraus. Diesmal wirklich aus Angst, er könnte frühzeitig sterben.

Irgendwie schafften sie es tatsächlich sicher zum Stehen zu kommen. Jimin wusste nicht wie, aber er dankte einem Gott, den es nicht gab, für seine Rettung. Als er seinen Helm absetzte und sein blondes Haar wieder ordnete, erkannte er auch, wo Taehyung sie da abgeladen hatte.

Es war ein Pub. Nicht aus Glas, sondern traditionell aus Stein mit vergleichsweise winzigen Fenstern. Und nirgendwo auch nur die Spur einer Ladesäule für das Motorrad. Jimin runzelte die Stirn. Er hatte Hunger, aber wollte nicht in diese finstere Kneipe, in der es sicher nichts gab, das ihm vielleicht näherungsweise schmecken könnte.

Doch Taehyung achtete gar nicht auf ihn, sondern ging einfach vor in den Pub. Widerwillig folgte Jimin ihm. In dem kleinen Raum war es wirklich finster. Die schweren Tische sahen abgenutzt und die Stühle unbequem aus, trotz der dünnen roten Kissen, die auf ihnen lagen.

Taehyung setzte sich an einen abgelegenen Tisch in der Ecke. Von der Eckbank, auf der Jimin sich niederließ, hatte er einen einwandfreien Blick auf den kleinen, flimmernden Bildschirm an der Wand gegenüber, der erstaunlicherweise gerade den Tagesbericht brachte. Mit einem Stoß mit dem Ellenbogen machte Jimin seinen Freund darauf aufmerksam.

Taehyung drehte sich um, als gerade ein Video der eingeschneiten Metropole gezeigt wurde.
"Noch immer hat es nicht aufgehört zu schneien. Durch den Ausfall des Univers-Webs konnte die Globale Weltraumforschungsstation den Schneefall auch noch nicht stoppen. Bisher konnte nur die Notstromversorgung aktiviert werden, sowie eine spontane Aktion, um die Menschen in ihren Wohnungen mit genügend Lebensmitteln zu versorgen."

Ein Bild einer Drohne mit einem kleinen Paket wurde eingeblendet. "Die Drohnen fliegen jede Wohnung einzeln an und versorgen die dort lebenden Bewohner mit dem Nötigsten."

Jimin runzelte die Stirn.
"Warum haben sie für sowas nicht schon lange mal vorgesorgt?" Taehyung schüttelte frustriert den Kopf. "Es ist eben doch nicht alles so perfekt, wie es immer gehandhabt wird." Er wandte sich wieder von dem Bildschirm ab und der Speisekarte zu.
Jimin wusste nicht mehr, was er denken sollte. Er war in diese Welt hineingeboren wurden. Alles hatte immer funktioniert. Für Notfälle war er nicht vorbereitet gewesen. Und er hatte sicherlich nie an der Perfektion des Systems gezweifelt.

Seufzend wandte er sich ebenfalls der Speisekarte zu. Und kam nicht umhin ein weiteres Mal aufzuseufzen. Das Angebot bestand ausschließlich aus Fleischgerichten. 
Steak au four.
Rumpsteak.
Rippchen.
Noch ein Steak.

"Ich esse kein Fleisch", beschwerte sich Jimin.
"Mh?" Taehyung schaute flüchtig von der Karte in seinen Händen auf. "Dann bestell dir was anderes."
"Hier gibt es nichts anderes", begann Jimin sich aufzuregen, doch da kam schon die Bedienung.

Sie hatte einen altmodischen Block und einen Kugelschreiber in der Hand. Wo auch immer sie den herhatte. Solche Blöcke wurden schon lange nicht mehr produziert. Papierverschwendung.

"Was kann ich Ihnen bringen?", fragte sie freundlich lächelnd. Warum war hier überhaupt eine menschliche Bedienung? Das alles kam Jimin doch sehr eigenartig vor. Doch Taehyung grinste das Mädchen mit seinem einnehmenden Lächeln an und bestellte sich ... ein Steak. Was auch sonst?

Nach einer kurzen Notiz, blickte sie jetzt aufmerksam zu Jimin, der nervös auf seiner Unterlippe kaute. Schließlich gab er auf, nach etwas wirklich essbaren in dem mageren Angebot zu suchen. 
"Ich nehme das Rumpsteak. Das heißt, die Beilage. Also den Salat."
Irritiert sah die Bedienung ihn an. Taehyung hingegen musste sich stark zusammenreißen, um sich das Lachen zu verkneifen. Böse starrte Jimin ihn an.

Das Mädchen zuckte schließlich mit den Schultern und kritzelte etwas auf ihren Block, bevor sie wieder verschwand. Jimin seufzte. Er wollte nach Hause.

Taehyung hatte derweil seine Karte auf dem abgegriffenen Tisch ausgebreitet. Fragend sah Jimin ihn an. "Was wird das hier?"
"Ich erkläre dir jetzt, wie wir weitermachen. Das Motorrad ist nicht mehr zu gebrauchen, also müssen wir einen anderen Weg finden, um vorwärts zu kommen."
"Und der wäre?"

"Für diesen Fall haben wir die Skier." Triumphierend sah Taehyung seinen Freund an. Dieser seufzte jedoch nur ein viertes Mal, seit sie im Pub waren und ließ seinen Kopf auf die Karte sinken.
"Das Leben könnte so einfach sein."

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-Joiy

All I want for Christmas... | AdventskalenderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt