Mein Nachbar

227 13 2
                                    

Nachdem ich mit dem Ehepaar Schmidt, das wirklich ausgesprochen freundlich, zuvorkommend und lustig war, alles weitere bis zu meinem Einzug geregelt hatte, verabschiedete ich mich strahlend von Frau Wilhelm. Die Maklerin hatte ein zufriedenes Lächeln im Gesicht und wünschte mir für die Zukunft alles Gute. Weil ich von oben kein Klavier mehr hörte, beschloss ich, mich gleich noch bei meinem neuen Nachbarn vorzustellen. Laut Frau Schmidt war er ein höflicher, gutaussehender Mann meines Alters, doch davon würde ich mich selbst überzeugen. Mit meiner Vormieterin hatte er wohl den ein oder anderen Disput wegen des Musizierens gehabt.
Ich erschrak ein wenig, als ich die Klingel betätigte, das Läuten war ziemlich laut. Sogleich musste ich den Kopf über mich selbst schütteln; erst klingeln und dann erschrecken, weil es klingelt, echt dämlich.
Die Tür öffnete sich und ein genervter junger Mann stand dahinter. Er schien mich gar nicht richtig wahrzunehmen, da schimpfte er schon los: "Frau Somalia, es ist kurz vor vier nachmittags, die Mittagsruhe ist schon lang vorbei. Irgendwann muss ich Klavier spielen, meinen Sie nicht..." jetzt erst schien er mich wirklich zu erkennen, jedenfalls sprach sein verdutzter Gesichtsausdruck dafür, dass ich nicht die war, die er erwartet hatte.
"Oh, Entschuldigung. Ich dachte... Naja, egal. Darf ich fragen, wer Sie sind? Denn Frau Somalia sind Sie offensichtlich nicht." Verlegen kratzte er sich am Kopf und grinste schief.
Da musste ich auch schmunzeln. Er dachte wohl, ich wäre die Vormieterin, die sich schon wieder beschweren wollte.
"Nein nein, mein Name ist Lillian Heider, sagen Sie aber gern Lilly und ich werde in zwei Wochen gegenüber einziehen. Naja, da fange ich mit dem Umzug an. Hier wohnen werde ich erst ab Ende September, weil ich im Oktober zu arbeiten anfange.", stellte ich mich vor, und versuchte angesichts seines Ausbruchs eben nicht zu lächeln.
"Das ist jetzt irgendwie peinlich", sagte er, "Entschuldige noch einmal meine unfreundliche Begrüßung. Ich freue mich, dass ich eine neue Nachbarin bekomme. Ich bin Nico... Nico Wellenbrink." Er reichte mir seine Hand und ich schlug ein. Sein Name, sein Gesicht, irgendwoher kam er mir bekannt vor.
Als meine Hand die seine berührte, zuckte er leicht zurück. Ich hätte ich vielleicht vorwarnen sollen.
"Ach du heilige Scheiße, ist das bei dir immer so?" fragte er. Und griff sofort nach meiner anderen Hand. "Die ist ja genauso kalt. Draußen hat es 25 Grad und deine Hände sind kalt wie Eis."
Ich hatte schon immer kühle Hände, aber seit der Chemotherapie waren sie immer eisig kalt, genau wie meine Füße. Und es gab nichts, das auf Dauer dagegen half.
"Jap, das ist immer so.", meinte ich nur, ich muss ja meinem neuen Nachbarn nicht gleich meine Lebensgeschichte erzählen.

Wir unterhielten uns noch kurz, bevor ich zurück ins Hotel musste, um meinen Koffer zu packen und auszuchecken. Schließlich wollte ich noch heute zurück nach Hause fahren.
Nico war wirklich nett und ich war mir sicher, dass wir soetwas wie gute Freunde werden konnten, obwohl ich nach dem Klinikaufenthalt und dem 'Verlust' meiner alten Freunde sehr vorsichtig und zurückhaltend bei neuen Menschen bin. Gut, eigentlich gehe ich allen neuen Menschen konsequent aus dem Weg, wenn es sich einrichten ließ.

I'll be your wings to fly Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt