Das erste Weihnachten in Berlin

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Seit meinem Arbeits- und Studienbeginn waren nun knapp drei Monate vergangen und heute ist Heilig Abend. Meinen Nachbarn habe ich gestern bereits zum Flughafen gebracht, er würde seine Familie über die Weihnachtsferien besuchen.
Weil wir uns wirklich gut verstanden seit ich eingezogen war, hatte er mich wieder gebeten, mich um seine Pflanzen zu kümmern. Nico hatte sie wieder alle auf den Esstisch gestellt, damit ich nicht jedesmal durch die ganze Wohnung laufen musste. So zumindest seine Argumentation. Ich wusste, dass er etwas vor mir verheimlichte, beziehungsweise einfach nicht wollte, dass ich es erfuhr und ich war mir sicher, dass ich Anhaltspunkte dafür in seinem Arbeitszimmer finden würde. Denn ich war mir sicher, dass es etwas mit seinem Job zu tun hatte. Aber die Tür war immer zu und ich würde seinen unausgesprochenen Wunsch respektieren und weder intensiv nachfragen, noch hinter seinem Rücken Nachforschungen betreiben. Falls er es mir erzählen möchte, wird er das tun, wenn nicht wird es nichts an seiner Person oder unserer frisch entstandenen Freundschaft ändern.

Meine Eltern würden gleich zum Mittagessen kommen, deshalb deckte ich schon einmal den Tisch und werfe einen prüfenden Blick in den Ofen. Die Ente scheint fast fertig zu sein und auch die Knödel und das Blaukraut auf dem Herd warten nur noch auf ihre Esser, die jeden Moment klingeln müssten.
Gemeinsam mit meinen Eltern verbrachte ich gemütliche Feiertage in Berlin, doch zu Silvester wollten die beiden wieder nach Hause fahren. Ich brachte die beiden also noch nach unten zur Tür, um mich von ihnen zu verabschieden. Ich winkte ihnen noch eine Weile hinterher und überlegte gerade, ob ich nicht noch ein wenig durch den Park spazieren wollte, als vor dem Haus ein Taxi hielt.
Seltsam. Bisher hatte ich hier noch nie eines gesehen, weil alle vier Parteien unseres Hauses ein eigenes Auto hatten.
Noch überraschter schaute ich, als Nico, ein junges Mädchen und ein Ehepaar, das offensichtlich seine Eltern waren, ausstiegen.
"Nico, ich dachte du bleibst mindestens bis Neujahr bei deinen Eltern?", deshalb hatte er mich doch gebeten, mich um seine Blumen zu kümmern. Nachdem er mir erklärt hatte, dass er immer noch nicht zulassen würde, dass ich Silvester allein auf meiner Couch verbringe und womöglich auch noch arbeiten würde, hatte ich mich bei seinen Eltern vorgestellt. Die beiden waren bodenständige Menschen und hatten mir beide sofort das Du angeboten.
Seine jüngere Schwester Clarissa studiert Lehramt in Palma, da hatten wir gleich etwas zum Quatschen während des Spaziergangs, dem sich die Familie angeschlossen hat.
Gerade hatte ich mich mit Lisa über verschiedene Weihnachtstraditionen unterhalten und ließ mich jetzt ein kleines Stück hinter den anderen zurückfallen, um die Ruhe des Parks in mich aufzunehmen.
"Du hast ihr nichts gesagt? Sag mal, spinnst du??", erschreckte Clarissa mich mit einem kleinen Ausbruch. Ich sah, wie Nico ihr bedeutete etwas leiser zu sein. Sie schimpfte trotzdem weiter auf ihn ein, das konnte ich an ihrer Mimik und Gestik erkennen, aber hören konnte ich nichts mehr.

Damit Nico sich sein Sofa nicht mit seiner Schwester teilen musste, während seine Eltern das Bett bezogen, bot ich an, dass er oder seine Schwester auf meiner Couch schlafen konnte. Clarissa war sofort begeistert von der Idee, abends vor dem Schlafen gehen allein mit mir "Mädchenkram" zu bequatschen. Nico schien nicht so überzeugt von der, aber nach einem "Du hast sie sonst die ganze Zeit, jetzt lass mich doch auch mal. Te gusta tuyo vecina. No dire quien eres realmente." und einem strengen Blick, den sich die beiden gegenseitig schenkten, war die Diskussion beendet. Ich hätte die Zeit in der Klinik doch dazu nutzen sollen, um Spanisch zu lernen.

Gemeinsam mit den Wellenbrinks bereitete ich die nächsten Tage alles für Silvester vor. Wir hatten uns einen Spaß daraus gemacht, nach verschiedenen Silvesterbräuchen zu suchen und uns ein paar auszusuchen. Deshalb wollten Raclette essen, zur Nachspeise würde es Kuchen und Obstsalat geben und für Knabbereien hatten wir auch schon gesorgt. Wir würden Bleigießen, um Mitternacht mit jedem Glockenschlag eine Traube essen, unsere Horoskope lesen, 'Dinner for one' gucken, Gesellschaftsspiele spielen und Clarissa und ich mussten vorher rote Unterwäsche kaufen, die uns im nächsten Jahr Liebe garantierem sollte. Die durften wir aber keinesfalls selbst bezahlen, sondern die musste nach spanischem und mallorcanischem Brauch geschenkt sein, weshalb wir sie uns gegenseitig schenkten.
Es war ein äußerst geselliges und lustiges Silvester. Inmitten einer Runde "Wahrheit oder Pflicht" - Lisa wollte es unbedingt spielen, weil es sie an Partys aus vergangenen Tagen erinnerte - hatte ich den Wellenbrinks von meiner Krebsdiagnose und dem anschließendenden Klinikaufenthalt erzählt. Auch hatte ich erfahren, dass Egon Wellenbrink der Melitta-Mann war und Nico noch eine ältere Halbschwester hatte. Als Clarissa Nico zwingen wollte, mir sein Geheimnis zu verraten, ging ich dazwischen. Er sollte es freiwillig mit mir teilen oder gar nicht. Basta.

I'll be your wings to fly Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt