[thirty three.one]

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Mingi PoV:

Ich spüre wie stark mein Herz schlägt und wie unregelmäßig mein Atem geht. Seit einer knappen Stunde renne ich schon weg von dieser Irrenanstalt. Irrenanstalt ist vielleicht etwas übertrieben, aber dennoch würde mich nichts länger dort halten. Hinter mir höre ich Rufe. Also werde ich doch gejagt, ja? So flink ich auch bin, langsam macht sich meine unzureichende Kondition bemerkbar.

Kurz vor dem Abendessen sind die Tore geöffnet worden, um einen Neuen hineinzulassen. Der junge Bengel tut mir jetzt schon leid, auch wenn er noch ganz froh aussah. Zu dem Zeitpunkt sah ich meine Chance und huschte unentdeckt durch das Tor. Dachte ich jedenfalls. Wie mir jetzt bewiesen wird, wurde ich allerdings doch erkannt. Diese verdammten Drecksgören, die glauben, sie würden dann einen 'Bonus' bekommen, haben mich verraten.

Die Knie schmerzen mir höllisch, trotzdem gebe ich meine letzte Kraft her, um mich weiter voran zu kämpfen. "Song Mingi, bleib stehen! Du machst es nur noch schlimmer", dringt das ärgerliche Gerufe Kais an mein Ohr. Es ist ja freundlich mich darauf hinzuweisen, aber glaubt er wirklich, ich wüsste das nicht selbst. Ein schrecklicher Druck steigt in meinen Kopf und zieht zu meiner Brust. Ich kann nicht mehr, ich kann einfach nicht mehr.

Nun ist es also vorbei. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert. Erschöft lasse ich mich rücklinks auf die nächstgelegene Bank fallen und blicke schwer atmend auf die Eisenbahngleise, die sich vor mir bis in die weite Ferne erstrecken. "War es dir das jetzt wert?", fragt Jongin vorwurfsvoll, nachdem er sich deben mir auf der Bank niedergelassen hat, "Dieser ganze Aufruhr?" Ich zucke nur desinteressiert mit den Schultern.

"Komm ich ins Insolationszimmer?", richte ich mich dann an meinen Betreuer. Dieser schaut mich mit diesem typischen Blick an, den man Kindern gibt, die sich unerlaubt ein Bonbon genommen haben. "Warscheinlich", meint er ,"Vielleicht auch nicht." Entrüstet blies ich Luft durch meine Nase: "Und wenn du erzählst, ich wollte auf die Gleise dort vorne, dann schon, nicht wahr?" Jongin seufzt matt: "Das würde mir keiner glauben, vorallem nicht der Professor."

Resigniert gleitet mein Blick von den Gleisen zum Mond. Ein schöner Vollmond am Montag, wie passend. Wäre ich jetzt wenigstens ein Werwolf, dann könnte ich mich blitzschnell verwandeln und wäre dann, schwups, einfach auf und davon. "Du bist nicht Suizidgefährdet, Mingi. Das wissen alle. Warum bist du denn so erpicht darauf zurück in dieses weiße Riesenpolster zu gehen?", spricht Kai mitten in meine Gedanken hinein.

"Da muss ich mir die anderen nicht geben, die regen mich auf", murre ich daraufhin, "Außerdem ist da der Boden wenigstens bequem und ich kann mich austoben wie ich will, ohne das alle paar Minuten einer eintritt und sich nach meinem, ach so wichtigen, Befinden erkundigen will. Das verstehst du doch, oder?" Der Angesprochen nickt. Klar nickt er, schließlich ist er einer der einzigen Betreuer, die mir mehr Freiraum lassen.

Als ich gerade wieder ansetzen will, steht der junge Mann auf, greift mir unter den Arm und zieht mich auf die Beine. Etwas ruppig schleift er mich hinter sich her zur Bahn, die gerade eingetroffen ist. "Erzähl' dem Professor bloß nicht, dass ich mit dir Bahn gefahren bin, geht das klar? Eigentlich darfst du nämlich nicht, ob unerlaubt oder erlaub, in öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, bis sich dieses Wahnvorstellungsding beruhigt hat. Also reiß dich zusammen, ja?"

Reiß dich zusammen ist gut. Er muss ja nicht aufpassen, dass ihn keine der Lichter oder Menschen irgendwie komisch vorkommen. Da kommt mir plötzlich ein Gedanke. "Du bist sicherlich auch hungrig, so wie ich?", grinse ich schelmisch, "Können wir nicht kurz vor dem Psychohaus bei dem Restaurant einen Abstecher machen, bitte?" Jongin sieht mich prüfenden an, aber gibt anschließend nach. Ich hab es spüren können, schließlich hätte es vor locker drei Stunden Abendessen geben sollen.

"Ist gut", äußert er sich kurz vor der Station, "Du solltest eh langsam wieder mehr essen, zwei Äpfel am Tag und ein Müsli am Morgen sind nicht wirklich nahrhaft. Aber ich kann dich verstehen, der Fraß ist nicht wirklich das gelbe vom Ei." Zum Ende hin muss ich kurz schmunzeln. Ich habe mir schon gedacht, dass wir, was das angeht, auf der selben Wellenlänge schwimmen. Also wird mir mein Wunsch gewährt.

Tatsächlich kommt es mir nicht so vor, als würde ich mit einem Betreuer zusammen essen, sonder eher so, als hätte mich ein Freund eingeladen. So viel Insiderwissen habe ich lange nicht mehr bekommen und, dass der Professor sich in seiner Freizeit gerne mit Zeichnen beschäftigt hat mich zwar nicht überrascht, aber trotzdem erstaunt. Jongin erzählt mir zudem von den nächtlichen Rundgängen, die er und Minseok immer abhalten müssen.

"Du glaubst nicht, wie oft wir uns anfangs erschreckt haben, wenn plötzlich irgendein Schrei durch den Gang gerauscht ist. Wir haben uns so verjagt, wie bei einem Geisterhaus. Außerdem ist es immer furchtbar knuffig, wenn wir Aufsicht bei den Kindern haben und die dann nachts mitten auf dem Gang stehen und erzählen, dass ihr Kuschelhase nicht schlafen kann und sie deswegen noch eine Runde Uno spielen müssen", alles klingt so, als hätte der Ältere wirklich seinen Traumjob gefunden.

Leider müssen wir gleich nach dem Essen zurück und insgeheim schüttelt es mich schon vor dem Empfang, der mich wohl oder übel erwarten wird. Als wir vor dem Tor angelangt sind, legt mir Kai aufmunternd eine Hand auf die Schulter. Mit meinem ganzen Mut trete ich in die Halle und werde von nichts als Dunkelheit empfangen. Doch, da hinten ist ein kleines Licht und der Professor sitzt da in seinem Sessel.

Vorsichtig nähere ich mich dem Braunhaarigen und betrachte sein Tun. Er zeichnet, so wie es aussieht einen Schmetterling in einem Käfig, der bei Nacht gegen die Gitterstäbe fliegt. Ich trete behutsam heran, setzte mich anschließend auf das Sitzpolster gegenüber. Nervös wische ich die schwitzigen Hände an meiner Jeans ab. "Also", räuspere ich mich, "Es tut mir leid, dass ich einfach abgehauen bin und ich weiß ja, dass das alles nur zu meinem Besten ist..."

Ich werde unterbrochen, denn Dr. Kim hebt seine Hand. Augenblicklich schließe ich meinen Mund und ein unangenehmes Gefühl krabbelt mir den Rücken hinauf. "Ich bin überrascht, dich noch hier zu sehen, Mingi", spricht er dann, "Um ehrlich zu sein, bin ich nicht davon ausgegangen, dass wir uns nocheinmal sehen." Mir klappt verdattert die Kinnlade hinunter. Perplex muss ich einige Male meine Augenlider bewegen, bis die Information bei mir ankam.

Durcheinander drehe ich mich zu Kai an der Tür um und bewegte meinen Mund dramatisch, um ihm die Worte 'Er dachte doch ich würde mich umbringen wollen?!' zu übermitteln. Dieser zuckte nur überfordert mit den Schultern. "Sie dachten", beginnen ich meine Annahme mit vollster Bestürzung,"Ich würde mich umbringen wollen?!" Der Professor lacht leise: "Nicht, dass ich deine wahnsinnigen Anmaßungen bestreiten würde, aber nein, dachte ich nicht."

Erleichtert atme ich die Luft aus, die ich vorher ungewollt aus Anspannung angehalten habe. Darauf wird das Fragezeichen in meinem Kopf allerdings nur noch größer: "Aber was dachten sie denn dann?" Dr. Kim zieht einen kleinen, schwarzen, stiftartigen Stab aus der Brusttaschen seines Mantels. Ein Laserpointer. Geschickt knipst er jenen an und der Rote Punkt beginnt direkt vor mir auf der Tischplatte zu kreisen.

Ich kann spüren wie etwas in mir anfängt afzubrodeln. Wie heiße Lava fühlt es sich an in meinem Kopf. Man aller Gewalt zwinge ich mich dazu, meinen Blick abzuwenden. "Ja gut, ich verstehe jetzt", murre ich, mir meine Unberechenbarkeit eingestehend. Zufrieden steckt der Professor das nervige Ding wieder zurück und schaut mir dann mit verschränkten Händen tief in die Augen. Ich bin mir sicher, dass jetzt wieder einer der typischen Sprüche kommt.

Und tatsächlich offenbart er mir mal wieder einen der einleuchtensten Tatsachen: "Nun stell dir doch mal vor, es verfolgt dich gerade keiner und du hast nichts, was dich in solch einer Situation von der Außenwelt ablenkt. Rote Ampeln, Autos mit Blinkern und was auch sonst für Reklametafeln es da draußen noch so gibt. Wir wollen dich hier drinnen nicht von außen abschotten, sondern dich langsam wieder an deine Triggerfaktoren heranführen. Geh nun ins Bett, wir reden morgen weiter."

Mit einer kurzen Geste leitet er Jongin dazu an mich auf mein Zimmer zu begleiten. Eins zu eins Aufsicht für die Nacht. Nicht, dass es mich stören würde, denn er ist mir deutlich lieber als die anderen Taugenichts von Betreuer. Trotzdem ist es doch viel angenehmer, wenn man nicht mitten in der Nacht in zwei aufmerksame Augen sehen muss, nachdem ein Albtraum einen aus dem Schlaf gerissen hat. Man merkt es ist spät, also verzeiht das Geschwafel.

Drapetomania || Yungi ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt