[thirteen.two]

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Mingi PoV:

Gelangweilt starre ich wie so oft gegen das blinkende Lämpchen der Überwachungskamera. Ich will endlich wieder raus in mein Zimmer, hier drinnen ist es einfach nur unerträglich. Meinen Berechnungen zufolge müsste ich nur noch heute und morgen früh in diesem Raum bleiben. Ein Glück, denn länger hätte ich es auch nicht wirklich ausgehalten. Dann bekomme ich auch endlich mein Handy wieder, in einem gewissen Zeitraum.

Gestern fragte ich nach einem Buch, um Die Zeit etwas zu überbrücken, welches mir auch gewährt wurde. Sie brachten mir eines der Taschenbücher, die ich mir vor meiner Einweisung gekauft, aber noch nicht gelesen hatte. Auf dem Rücken liegend lasse ich meinen Blick über die Wörter huschen. Es ist eine ziemlich mitreißende Geschichte, die mir eindeutig gefällt.

"Wir wirbelten alle gleichzeitig herum und warfen uns ins Unterholz neben dem Weg. Der Schuss, der sich löste, verhallte, ohne sein Ziel zu treffen.", lese ich laut vor mich hin, "Hope riss mich hoch und wir rannten, bahnten uns einen Weg durch das weglose Grün. Das Adrenalin sang in meinen Ohren. Schneller, schneller schneller![...]

Wir kamen nicht gut genug voran, jetzt fehlte uns die Machete, wir rissen mit den Händen an den Lianen, bis unsere Finger bluteten, kämpften uns vorwärts ... Die hinter uns hatten es leichter, sie bewegten sich auf unserer Spur. Und dann fiel der Berg jäh ab. In der Tiefe glänzte der bloße Fels."

Mich würde es nicht wundern, wenn der Aufseher vor den Bildschirmen mir gerade zuhört und sich freut, nicht immer nur das Gekreische der anderen Patienten über sich ergehen lassen zu müssen. Also lese ich weiter: "[...] Er drehte sich halb um, noch während er das Gleichgewicht verlor, und sah uns an, mit diesen Augen, die vor allem eins waren: erstaunt. Und er fiel. Zur falschen Seite."

So verbringe ich den restlichen Tag bis es schließlich Zeit für das Abendessen ist. Eine Betreuerin betritt den Raum und stellt mir ein silbernes Tablett hin. "Guten Appetit!", wünscht sie mir, ihre Augen von Furcht verschleiert. Sofort verlässt sie den Raum auch wieder, nachdem sie dies gesagt hat. Es stimmt mich traurig, dass sie solche Angst vor mir hat. Aber was soll's, ich bin eben ein Monster.

In moderatem Tempo schiebe ich mir die in streifengeschnittenen Karottenstücke zwischen die Zähne. Die matschigen Konsistenz machen sie nicht angenehm zu essen. Dazu wurde mir ein belegtes Brötchen gelegt, liebevoll zusammengeklappt und gefüllt mit einer dünnen Scheibe Käse. Ich sollte mich nicht beschweren, schließlich gab es schon Schlimmeres. Mit der Vorfreude auf erneute 'Freiheit' am morgigen Tag, beende ich meine Mahlzeit.

Zu meiner Verwunderung holt keiner das Tablett wieder, was mich misstrauisch werden lässt. Seit wann darf man metallene Gegenstände in Anwesenheit eines zu aggressivem und verletzendem Verhalten neigenden Psychos, ohne Aufsicht liegen lassen? Es beunruhigt mich, mehr als es sollte, kann es jemand wegnehmen, bitte?

Mein Körper wird unruhig, meine Hände beginnen zu zittern. Hilfesuchend blickte ich zur Kamera hinauf, komm schon, du nichtsnutzigen Aufseher da oben vor deinem Bildschirm. Zuckungen durchgehen meinen Nacken. Ich wusste nicht, dass so etwas banales in einem fast leeren Raum zu solch einem schlimmen Trigger werden kann. Bitte, bitte, schau her und räum das Ding weg!

Da wird plötzlich die Tür aufgerissen und zwei Personen stehen im Rahmen. Sie atmen unregelmäßig und laut, als wären sie gerannt. "Macht das Tablett weg!", schreie ich sie aus der Verzweiflung heraus an, "Macht es weg!" Einer der beiden kommt auf mich zu, während der andere das Tablett aus dem Raum wirft. Das war eindeutig zu viel, viel zu viel. Vor mir steht mein Psychologe und redet gut auf mich ein, obwohl meine Konzentration immer noch komplett auf dem Tablett liegt.

"Leg dich hin, Mingi", wispert er mir ruhiger Stimme, "Dann wird es dir besser gehen." Er ist der einzige der mich duzt und auch duzen darf. Nickend befolge ich seine Anweisungen. Die Zuckungen und das Zittern erschweren es mir still zu liegen, aber es wird besser. "Danke", hauche ich. Herr Kim winkt lächelnd ab: "Das ist mein Job. Bis morgen, Mingi." Ich bin froh, dass ich morgen wieder in mein Zimmer darf. Endlich.

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Buchzitat:
HOPE - Peer Martin,
S. 156: Z. 1-6, 9-13, 21-25

Drapetomania || Yungi ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt