New York

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Ich lag vermutlich noch ein paar weitere Stunden auf dem Boden, nicht mal weinend, einfach nur ruhig und halbwegs glücklich, bevor ich mich dazu aufraffen konnte, mein Gesicht aus dem Pulli zu nehmen. Weinen konnte ich nicht mehr, doch dafür hatte ich alles aus mir gelassen, was ich die letzten Jahre in mir vergraben hatte, all die Gefühle, die ich niemandem zeigen wollte. Nicht einmal mir selbst. Ich taumelte zur Küche und trank aus dem Wasserhahn, ich vermutete, dass sowieso keine Getränkeflasche mehr rumstand, obwohl man sich in einer Zeitschleife ja nie sicher sein konnte. Mein Durst war schnell gestillt und ich packte den Pullover in meine Tasche, bevor ich zur gegenüberliegenden Wand lief und Moms und Dads Hochzeitsbild betrachtete. Die beiden sahen überglücklich aus und schauten sich lächelnd in die Augen, es musste wohl einer ihrer glücklichsten Tage zusammen gewesen sein. Auf einem weiteren Bild war ich zu sehen, wie Mom mich auf dem Arm hatte und ich Dads Hand hielt, ich war vielleicht 2 Jahre alt, wenn überhaupt. Und das Bild, welches rechts davon hing, zeigte mich auf Dads Armen ein paar Tage nach meiner Geburt. Viele weitere kostbare Erinnerungen hingen dort. Laura, die ich nicht mehr sehen durfte dank Steve, meine Cousinen, Cousins. Nat, Buddy, sogar ein Bild von Bucky. Und als ich mich hinkniete, sah ich Fotoalben, die darunter im Regal standen, zusammen mit einer riesigen Filmsammlung und sehr vielen CDs. Als ich eines der Fotoalben in die Hand nahm, fiel mir ein Bild entgegen. Das erste Ultraschallbild, was Mom von mir je bekommen hatte, das erkannte ich am Datum.

Nachdem ich eine weitere Stunde auf dem Boden gesessen hatte und jedes Fotoalbum durchgeschaut hatte, lief ich nach oben zu dem Zimmer, welches ich als Kinderzimmer in Erinnerung hatte. Als ich die Tür öffnete, sah ich das kleine Bett, welches früher meines gewesen war, in dem ich meine Nächte mit Buddy verbracht hatte und in sein Fell weinte, wenn mir einer der Blitze wieder Angst einjagte, wenn ich schlecht träumte oder ich einfach so einen Freund brauchte, der für mich da war. Wieder jagte mir die Sehnsucht nach meinem Labradormischling eine Gänsehaut über den Rücken, die ihresgleichen suchte und ich wünschte mir, dass ich ihn wenigstens noch einmal in den Arm nehmen konnte. Er war wirklich der treuste Freund gewesen, den ich gehabt hatte. Sanft nahm ich eines seiner Spielzeuge in die Hand, was auf dem Boden lag, welches er hier wohl vergessen hatte. Steve hatte auch ihm keine Zeit gelassen, sich von diesem Haus richtig zu verabschieden und auch er hatte nie verstanden, warum Mom und Dad nicht zurückkamen. So, wie es niemand von uns verstanden hatte und auch niemand von uns es glauben konnte.

Langsam verließ ich auch das Zimmer und schloss die Türe wieder. Ich spürte, wie mein Herz zerbrach, wie es splitterte und es nicht mehr heilen wollte, wie mich die Splitter von innen zerrissen und ich trotzdem stark bleiben musste. Denn ich hatte mir noch ein weiteres Ziel gesetzt und auch wenn es dunkel wurde und ich dieses Haus am liebsten nie wieder verlassen würde, musste ich schnell handeln, denn das Landhaus war die offensichtlichste Option, die es gab, an der er mich mit größter Sicherheit als erstes suchen würde. Steve hatte garantiert schon alles in Bewegung gesetzt, um mich wiederzufinden und ich wollte noch zum Tower fahren. Ich wollte endlich an diesen Ort fahren, den mir Steve von Anfang an verboten hatte. Sogar Moms und Dads Beerdigung wurde nicht dort abgehalten, sondern in einer kleinen Kapelle in der Nähe von Steve's und Buckys Haus, daran konnte ich mich noch erinnern, obwohl es schon 10 Jahre her war. Ich schnappte mir den Autoschlüssel, den ich auf dem Sideboard im Eingang liegen gelassen hatte und verwischte jede mögliche Spur, die darauf hinwies, dass ich hier gewesen war, bevor ich zur Tür lief. Bevor ich das Haus verließ, drehte ich mich noch einmal um und schloss nochmals die Augen, wie ich es am Anfang getan hatte.

"Mom, Dad? Ich vermisse euch. Ich wünsche mir so sehr, dass ihr mir beisteht und mir auf meinem Weg helft, ich schaffe es einfach nicht allein. Niemand ist mir mehr eine Hilfe und ich weiß nicht mehr, was ich tun oder an wen ich mich wenden soll. Helft mir bitte zu erkennen, wer ich bin und was meine Aufgabe hier ist."

Und mit diesen Worten verließ ich das Landhaus, in welchem mein Herz für immer blieb. Ich ging auf schnellstem Wege zum Auto, welches noch stand, wo es vorher gestanden hatte, auch wenn ich schon darauf wartete, dass Steve dort stand und mich zurück in das Rogers-Gefängnis bringen würde. Ich stieg ein und fuhr den direkten Weg nach New York City, hielt auf den Tower zu, den ich in der Ferne schon sehen konnte. Mein Herz klopfte mir laut gegen die Brust und ich wurde immer nervöser, der ganze Tag bestand für mich nur aus Nervosität. 

Als ich schließlich davor stand und einen Eingang suchte, hatte ich das Gefühl, klinisch tot zu sein. In meinem Körper hatte einfach alles aufgehört zu arbeiten, kein Blut kam mehr irgendwo an und ich fühlte mich, als würde ich auf Wackelpudding laufen, so wackelig fühlte ich mich auf meinen Beinen. Durch die Eingangstür kam ich in eine große Halle, eine Art Foyer, die verlassen war, trotz allem war auch hier alles erhalten, als hätte sich jahrelang jemand darum gekümmert oder es sei immer noch in regelmäßigem Betrieb, denn auch hier hatte Stephen ganze Arbeit geleistet. Ich drückte auf den Knopf des Aufzuges um ihn zu rufen, ohne genau zu wissen, wo ich überhaupt hin musste. Im Aufzug sah ich dann eine Beschriftung:

0 Foyer
1 Besprechungsräume
2 Übungsraum 1
3 Archiv
4 Labor & Werkstatt
5 Krankenstation
6 Aufenthaltsraum
7 Apartment Stark / Rhodes
8 Apartment Rogers / Romanoff
9 Apartment Maximoff / Barton

Als ich meinen Nachnamen las, hörte ich auf, mir das Geschriebene noch weiter anzuschauen und drückte auf die leuchtende 9 direkt vor meiner Nase. Die Türen schlossen sich langsam und leise, bevor sich der Aufzug in Bewegung setzte und mich nach oben beförderte. Ich sah, wie New York neben mir kleiner wurde und der Aufzug kurz darauf kaum merklich anhielt. Die Türen öffneten sich und ich stolperte aus dem Aufzug, meine Beine wurden immer wackeliger, die Tür schon im Blick, die ich suchte. An der ersten Tür vorbei, auf der an einem kleinen Schild der Name Maximoff zu lesen war und darüber in etwas kleiner Pietro & Wanda. Bei dem Name, den ich darüber las, blieb ich doch perplex stehen. Ich wusste, dass es Wanda's Bruder war, mit dem Mom Dad betrogen hatte, doch ich hatte nie gedacht, dass ich seinen Namen so nochmal lesen konnte, es hatte sich für mich trotz allem immer noch sehr weit weg angefühlt. 

Ich nahm die Türklinke in die Hand und öffnete mit zitternden Händen die Tür. Dahinter sah ich eine weitere Tür zu meiner linken, die mich in eine Küche führte, weiter vorne war eine Tür, die ins Wohnzimmer ging. Der Gang machte einen rechtsknick und ließ mich auf eine Tür direkt vor mir schauen. Sie stand etwas offen, als sei sie in Eile verlassen worden und ich vermutete, dass es das Zimmer war, was ich unterbewusst so eindeutig suchte, die Türe rechts davon ignorierte ich komplett. Ich stieß die Tür zur Seite und schaute direkt aus einer großen Fensterfront auf New York, ein großes, ungemachtes Bett stand in der Ecke rechts von mir und zu meiner linken war ein Kleiderschrank zu sehen, der Rest des Zimmers war recht ordentlich. Bilder hingen an den Türen des Kleiderschrankes und an Korkplatten an der Wand gegenüber der Fensterfront, Bilder von ihm und Mom. Es waren keine professionellen Bilder, es waren Bilder, die mit dem Handy entstanden waren, aus der Situation heraus. Da war Mom in seinen Armen, auf einer Couch, die ich vage aus Erinnerungen kannte und mit einem Lächeln, welches Bände sprach. Sie war glücklich mit ihm gewesen, genauso wie sie mit Dad glücklich gewesen war, sie hatte sie beide mit ganzem Herzen geliebt. Trotzdem verletzte es mich, klar. Immerhin war Mom Dad nicht treu geblieben und ich konnte es kaum fassen, weil sie eben diese große Vorbildsrolle für mich gehabt hatte. Auch nicht, als ich ein weiteres Bild fand, tief vergraben unter ein paar Büchern auf dem Nachttisch, wie sich Mom und der blonde Mann küssten. Pietro. Das war sein Name gewesen.

Ich schmiss das Bild auf das Bett und ging zu dem Apartment, auf dem Moms und Dads Name stand. Sina & Clint Barton. Ich musste dort einfach etwas finden, was mir zeigte, wer sie gewesen war und was sie dazu brachte, sich zu verhalten, wie sie es getan hatte. Ich öffnete vorsichtig die Tür und schaute auf einen weitläufigen Raum, rechts von mir die Küche, vor mir ein Esstisch und dahinter eine riesige Fensferfront mit Couch davor. Ein kleines Buch lag darauf, es war verziert mit einem Sonnenuntergang und als ich es öffnete, sah ich Moms geschwungene Handschrift. Es war ein Tagebuch, über jeden Tag eine Seite. Erneut füllten Tränen meine Augen und ich hörte Schritte hinter mir. Bereit, wegzurennen und mich zu verstecken, sprang ich auf, das Buch fest in meiner Hand. Doch weder Steve noch Bucky stand hinter mir, nein, es war sogar eine größere Überraschung als das.

"Stephen!" hauchte ich und fiel ihm in die Arme.

Remember who you are [Fortsetzung zu Ordinary Girl]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt