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Wahrscheinlich war es nicht normal, nein, es war gewiss nicht normal. Jeder andere Mensch in meiner Situation wäre wahrscheinlich nervös gewesen, aufgeregt, gespannt. Doch ich war es nicht, ganz im Gegenteil, ich war die Ruhe selbst. Es war nicht so, dass es mir egal war, das heute mein erster Tag war. Mein erster Schultag, wie lächerlich sich das anhört nach allem, was ich bereits erlebt hatte. Schule... Das war ein Ort, den ich seit mehr als fünf Jahren gemieden hatte, ein Ort der für mich schon immer mehr oder weniger Zeitverschwendung bedeutet hatte. Bereits als Kind hatte ich gewusst, welchen Weg ich einschlagen wollte. Und heute? Heute hatte definitiv keinen Raum in dieser Planung gehabt. Vielleicht lag es auch einfach daran. Was war ein erster Schultag schon im Vergleich zu einem Kriegsfeld?
Es fiel mir schwer aus meiner Rolle herauszukommen, mich damit zurechtzufinden. Abfinden war das falsche Wort, den dies würde ich definitiv nie tun ... Mich abfinden.


Es war ein Teil von mir, das frühe aufstehen. Sie hatten es in mich hinein geprügelt, mit kalten duschen, lauten Trompeten und unfassbar gnadenlosen Ausbildern. Es schickte sich nicht nur eine Minute nach halb sechs aufzustehen, es war mir in Mark und Blut übergegangen. Auch jetzt konnte ich nicht länger als bis kurz nach fünf liegen bleiben. Die letzten dreißig Minuten hatte ich mich regelrecht dazu gezwungen. Immer wieder blinkte mein Handy auf, die Minuten zogen sich wie Stunden. Und immer wieder ploppte die eine Nachricht auf- "Wieso meldest du dich nicht?"
„Schön, dass du dich meldest. Ist ja nichts so als wäre ich vorsorge fast gestorben." Ihre Stimme war wütend, sie kochte förmlich.
„Ah komm schon, ich hab dir doch geschrieben."
Sie zischte auf. Falsche Antwort. „Geschrieben? Geschrieben sagst du? Du hast mir geschrieben als du gelandet bist. Das ist nur wie lange? 24 Stunden her?"
Ich hörte wie sie wütend ausatmete und etwas Unverständliches murmelte. Als sie wieder sprach, war sie deutlich ruhiger. „Mach das nie wieder, hörst du?"
„Es tut mir leid Ella."
Sie nuschelte wieder und klang nun endgültig besänftigt. „Selbst als du dort warst, hast du dich schneller gemeldet." Fügte sie dennoch vorwurfsvoll hinzu.
Dort. Sie sprach es nie aus. Vermied gänzlich darüber zu reden und wenn sie es doch tat, dann umschrieb sie es, betitelte es als „den Ort" oder vorzugsweise einfach „Dort".
„Das Internet ist in Afghanistan auch deutlich besser als hier."
Ella zog scharf die Luft ein, sie hasste es, wenn ich es aussprach. In ihren Augen war es unverständlich, lebensmüde was ich getan hatte. Mit 16 hat sie mich noch unterstützt, als ich von der Schule ging, um mich auf meine Ausbildung vorzubereiten. Mit 17, als die eigentliche Ausbildung losging, war ich bereits so weit, dass ich das Meiste in einem halben oder Dreiviertel Jahr hinter mich brachte. Die meisten dachten es lag an meinem Vater und seiner Position bei der Armee, doch ich hatte selbst dafür gearbeitet. Mit 19 als ich zum Sergeant ernannt wurde, drei Jahre früher als es üblich war, war sie noch begeistert, hatte sich so für mich gefreut, wie es nur eine beste Freundin konnte. Doch dann wurde ich wieder einberufen und diesmal war es ernst. Im Endeffekt war ich nur wenige Monate dort. Mein Körper spannte sich an, jeder Muskel versteifte sich, als ich an den Tag zurückdachte. Es war wie ein Flashback, der mich immer wieder gefangen hielt. Ich spürte die Hitze, den Sand auf meiner verschwitzten Haut, hörte seine Stimme, das schrille Lachen. Es war ein Unfall, so sagten sie es zumindest. Doch wir wussten beide das es keiner war. Er hatte auf mich geschossen, mein eigener Kamerad hat die Waffe gegen mich gerichtet.
„Ama? Was ist denn nun?"
„Hmm?" Ellas Stimme drang endlich zu mir durch.
„Ob es dir gefällt habe ich gefragt?" Lachend wiederholte sie ihre Frage.
„Ja, ja klar. Ist schon in Ordnung." Instinktiv fuhren meine Finger die Stelle ab, an der mich die Kugel getroffen hatte. Der Schmerz war schon längst fort. Er war zu meinem Herzen gewandert und hatte sich dort verankert.
Ella drängte mich dazu ihr mehr zu erzählen, jedes Detail quetschte sie aus mir heraus. Sie sog die Informationen auf, kommentierte hier und da meine Erzählung und lachte über meine Beschreibung von Direktorin Mayer. Es war wie früher, eigentlich war es wie immer. Ella war die Stütze in meinem Leben, die nie wegbrach. Seit unserer Geburt waren wir beste Freundinnen. Das sie mich bis zu unserem sechsten Geburtstag nicht leiden konnte, bestritt sie vehement. Erst nachdem ich für sie ihre Puppe von Joshua Quenie wiedereroberte hatte, entstand eine unerschütterliche Freundschaft.
„Ella ich muss jetzt los. Schlaf später gut, ich melde mich heute Abend."
Sie gähnte zur Antwort. „Bei dir oder bei mir Abend?"
„Siehst du dann." Erweiterte ich und legte schnell lachend auf.

Immer in liebe, A.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt