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Es war einer dieser Momente, die ich im Nachhinein betrachtet, als eine außerkörperliche Erfahrung beschreiben würde. Zumindest das, was ich mit darunter vorstelle. Fast so, als würde ich von außen auf mich schauen, auf alles, was gerade in diesem Bruchteil einer Sekunde um mich herum passierte. Ich hörte das Tropfen des Wasserhahns, den Wind, der aus dem kleinen Fenster in den Raum geweht wurde. Hörte den unruhigen und fast schon unnatürlich schnellen Atem von Direktorin Mayer.
Klack. Ihre Kosmetiktasche fiel hin.
Klack. Shampoo und Duschgel folgten dieser.
Klack. Ein Buch knallte daneben.
Ihre Hände waren nun leer und ihre Arme hingen an ihrem Körper herunter, während ihre Augen mich immer noch panisch anstarrten, ihren Blick auf mein Gesicht gerichtet. Und ich? Ich tat gar nichts. Ich schaute sie an und folgte ihrem Blick der in einer bedrohlichen Langsamkeit meinen Anfing meinen Körper entlangzufahren. Sie schien jedoch nicht mich, sondern nur die Tätowierung zu sehen, bis zu dem Moment als ihre Augen meine kaum zu übersehbare Narbe fanden. Ein Zucken, unterbewusst, nicht steuerbar. Erst als sie kurz entsetzt aufstöhnte kam wieder leben in meinen Körper und vor allem Sauerstoff. Den auch ich hatte unbewusst die Luft angehalten und meine Lunge füllte sich nun mit warmer, stickiger Luft. Schnell zog ich das Handtuch von meinen Hüften herauf und versuchte das nötigste zu bedecken. Direktorin Mayer hingegen schaute immer noch auf meinen Brustkorb.
„Fuck, sorry, wirklich sorry! Ich, ich bin schon weg. Also ähm yeah, sorry." Nuschelte ich stammelnd und griff nach meinen Anziehsachen. Aus einem Impuls griff ich nach ihren Sachen und stellte sie auf die kleine Ablage an der Wand neben ihr, darauf bedacht mein Handtuch samt meiner Kleidung an Ort und Stelle zu halten. „Bye." Presste ich noch raus als ich an ihr vorbei stürzte und mich durch den schmalen Raum zwischen ihr und der Tür quetschte, der nicht breit genug war. Fuck! Ich streifte ihre Haut. Als würde ich Feuer streifen. Sie rührte sich nicht. Starte noch immer auf den Platz, an dem ich gestanden hatte. Ihr Gesicht hatte jegliche Farbe verloren, nur ihre Augen hatten immer noch das gleiche tiefe braun, das sie fast schon schwarz erschienen ließ.
Mit wackligen Knien lief ich in mein Zimmer zurück. An der Tür lauschte ich, ob ich Schritte hören konnte, vielleicht würde sie mir folgen? Wie kam ich auf die Idee? Warum sollte sie das tun?
„You're losing your fucking mind." Meine wackligen Beine trugen mich nur noch bis zum Sofa. Erst jetzt begriff ich, auch wenn sehr langsam, quälend langsam, was gerade passiert war. Sie hatte mich nackt gesehen, mehr oder weniger nackt. Aber das reichte. Reichte, um leichte Panik in mir zu schüren. Um meinen Atem zu beschleunigen. Innerlich redete ich mir ein ruhig zu bleiben, was war schon dabei? Minuten verstrichen und als ich nach zehn Minuten immer noch nichts gehört hatte, entwich die angestaute Anspannung ein wenig aus meinem Körper, jedoch nicht aus meinem Kopf. Das Bild brannte sich ein. Sie fand mich abstoßend, dessen war ich mir sicher. Ihre Augen hatten Bände gesprochen. Sie fand meine Narbe abstoßend, meine Tätowierung wahrscheinlich primitiv und mich gleich dazu. Die von ihr an den Tag gelegte Antipathie war nichts Neues für mich und störte mich nicht sonderlich, wenngleich ich es doch ziemlich befremdlich fand. Doch dieser Ausdruck in ihrem Gesicht ... Aus unerklärlichen Gründe hatte es mir einen Stich versetzt. Es sollte mir egal sein!
„Sie hat mich nackt gesehen."
Am anderen Ende der Leitung hörte ich nichts, nur das rhythmische Atmen. „Huh?"
„Sie hat mich nackt gesehen!" Wiederholte ich meine Worte noch einmal und betonte jede Silbe meines Satzes.
„Wer hat dich nackt gesehen?" Auch Ella betonte ihre Worte auf dieselbe Art und Weise und ich erkannte an ihrer Stimme, dass ich vielleicht nicht direkt damit hätte anfangen sollen.
„Direktorin Mayer."
Ella zog scharf die Luft ein. „Warum? Besser gesagt wie?"
Also erzählte ich ihr kurz was genau passiert war. Das Gefühl, dass sie alles Mögliche unternahm, um nicht loszulachen verließ mich dabei bis zum Schluss nicht.
„Oh fuck. Und du hast ihre Sachen noch aufgehoben?" Fragte sie ungläubig.
„Ja, warum nicht?"
Sie konnte sich nicht mehr zurückhalten und lachte lauthals los. „Du bist so genial Reils. Aber jetzt mal im Ernst, wo ist denn das Problem?"
„Sie hat mich nackt gesehen, meine Narbe und alles und sie ist die verdammte Direktorin Ella! Das ist doch abartig Peinlich." Schrie ich fast in den Hörer.
Sie lachte noch immer, langsam wurde es mir zu blöd. „Dich haben schon sehr viele Frauen nackt gesehen." Stellte sie nüchtern fest.
„Was redest du da? Das stimmt doch nicht!"
Ella ließ sich nicht von meiner wütenden Stimme beirren. „Bei der Armee honey, was denkst du den wieder?" Als von mir nicht direkt eine Antwort kam, stöhnte sie genervt aus. „Du hast mir doch selbst erzählt, das ihr nach dem Training zusammen geduscht habt. Hast du dich da vor deiner Vorgesetzten versteckt?"
„Nein", antworte ich wahrheitsgemäß. „Aber das ist was anderes!"
„So Quatsch Amaryllis, es ist genau dasselbe. Du wirst auch nicht die erste Frau sein, die sie nackt gesehen hatte. Außerdem, was soll der Mist mit der Narbe? Fängst du wieder an?" Ich kannte diese Diskussion mit ihr, viel zu oft hatten wir sie schön geführt. „Wehe du fängst wieder an!"
Gerade als ich zu meinem üblichen Monolog ansetzten wollte, klopfte es an der Tür. Leise, extrem leise, das ich für einen kurzen Augenblick dachte, ich hätte es mir vielleicht doch nur eingebildet. Doch als kurze Zeit wieder ein Klopfen ertönte, gefolgt von einer rauen Stimme die ein unsicheres „Samuels?" von sich gab, wich der Zweifel purer Nervosität.
Am liebsten hätte ich mich einfach versteckt, das Licht auslöschen und so tun als wäre ich nicht hier. Mein Handy in der Hand ging ich einen Schritt auf die Tür zu.
„Amaryllis?"
Ella hörte es auch, es war kein leises unsicheres Klopfen mehr, sondern fast ein Hämmern.
„Ist sie das?" Fragte Ella aufgeregt.
„Ja." Flüsterte ich so leise wie Möglich ins Telefon.
„Amaryllis öffnen Sie die Tür." Ihre Stimme klang genervt.
„Ja, Moment." Ungelenk zog ich die Tür auf, das Handy immer noch am Ohr. „Ja?" Meine Stimme war unsicherer als gewollte, das Räuspern machte es nicht besser.
„Was machen Sie hier?" Direktorin Mayer stand vor der Tür. Ungewohnt sah sie aus, mit Jeans und Shirt, gar nicht mehr so versteift. Vielleicht lag es an den noch feuchten Haaren, die ihr in sanften Wellen um das Gesicht lagen. Moment. Sie hatte tatsächlich gerade geduscht. Diese Frau war anscheinend nicht so schnell aus der Fassung zu bringen.
„Wie meinen Sie das jetzt?" Meine Stimme hatte ihre gewohnte Stärke wieder gefunden. Ihr Blick glitt an mir vorbei in das kleine Apartment, welches ich mittlerweile so umgestellt und eingerichtet hatte, das ich mich wohlfühlte.
„Ich würde gerne den Grund erfahren, warum Sie sich in einer der zukünftigen Wohnungen für das Lehrpersonal befinden."
Erstaunt legte ich den Kopf schief. „Ich wohne hier, das ist das mir zugewiesene Zimmer."
Sie schaute mich eben so erstaunt an, wie in der Dusche. „Was?"
Mit gewallt biss ich mir auf die Zunge, um ihr nicht in den gleichen süffisanten Ton wie sie damals zu erklären, das es wie bitte hieß.
„Es ist alles mit Maria besprochen. Es gab keinen freien Platz mehr bei den Oberstufen Zimmer. Warum?" Erklärte ich ihr ruhig. Ella lachte leise an meinem Ohr. Ihr Vater stammte aus Österreich, sodass sie dem Gespräch mühelos folgen konnte, wenn gleich sie sich immer weigerte Deutsch zu sprechen.
Direktorin Mayer schaute wieder an mir vorbei. „Oh."
„Reils, du machst es nicht gerade besser, wenn du so mit ihr sprichst." Ella hatte vielleicht recht. „Ruf mich später an oder schreib mir. Ich muss jetzt los."
„Okay." Antworte ich automatisch. Um einen weiteren Konflikt aus dem Weg zu gehen, deutete ich auf das Handy in meiner Hand, nicht das sie es nicht schon gesehen hätte.
„Also bleib ruhig, ich weiß das kannst du. Aber dein Temperament", Fing Ella an.
„Ella, ist ok. Bis später." Ich hatte mich mit dem Rücken zu Mayer gedreht und versuchte so leise wie nur möglich zu sprechen.
„Bis später. Ich hab dich lieb." Das Lachen in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
„Ich dich auch. Bye."
Direktorin Mayer stand noch an derselben Stelle und musterte mich wieder auf ihre eindringliche Art. Erst jetzt bemerkte ich die Schatten um ihre Augen, die trotz der gebräunten Haut jetzt ganz deutlich zu sehen war. Sie wirkte noch müder und angespannter als in ihrem Büro. Erst als sie sah, dass ich sie anschaute, straften sich ihre Schultern, der gewohnte kühle Ausdruck kehrte auf Gesicht zurück.
„Nun, wenn das mit Maria besprochen ist, muss ich es wohl akzeptieren." Sie lehnte sich etwas vor. „Wir müssen glaub ich nicht darüber sprechen, dass der Vorfall uns beiden durchaus unangenehm ist." Es klang wie ein Geständnis. Ihr Blick glitt wieder zu irgend etwas hinter mir. Sie mied es mir in die Augen zu schauen.
„Da kann ich nicht widersprechen."
Ihr Gesicht schoss hoch. „Dann muss ich sicher nicht sagen, dass ich Ihre Verschwiegenheit voraussetze!"
„Nein gewiss nicht."
Zufrieden nickte sie und strafte erneut ihre Schultern. „Gut, dann vergessen wir es einfach. Die Nachtruhe gilt auch für dieses Gebäude, vergessen Sie das nicht." Direktorin Mayer war im Begriff zu gehen, als sie noch einmal innehielt und sich wieder zu mir drehte. „Es, es war keine Absicht. Ich habe nicht erwartet, hier jemanden anzutreffen." Ihre Wangen färbten sich kaum merklich in einem rosa Ton, der mich verwirrt nicken ließ. Das alles war grotesk. Ich hätte nicht erwarte, dass sie überhaupt wusste, wie man seine Schuld einsah.
„Ich hägtte auch abschließen können." Erwiderte ich nach einigem Zögern.
Sie nickte nur und zog eine Hand aus der Hosentasche. Sie hob sie kurz, fast als wollte sie winken, doch diente es ihr nur als Zustimmung.
„Guten Nacht." Ihre Stimme war nicht mehr als ein leises Flüstern, kaum lauter als mein eigener Herzschlag. Noch bevor ich es erwidern konnte verschwand sie hinter der Ecke, die den vorderen Teil des Stockwerks vom hinteren trennten, indem sich sowohl die alten Gemeinschaftsduschen befanden, als auch mein kleines Apartment. „Nacht."

Immer in liebe, A.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt