Kapitel 1: Tumult am Hafen

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Julian hielt sich hinter einem der umgestürzten Tische verborgen und fühlte seinen Puls rasen. Ein Stück Plane verdeckte die Sicht von oben und gab ihm zusätzliche Sicherheit. Männer und Frauen redeten in Panik wild durcheinander, viele ergriffen die Flucht. Julian hatte keine Ahnung, was aus Dick und Anne geworden war. Hoffentlich hatten sie sich irgendwie in Sicherheit bringen können. Neben sich spürte Julian den armselig bekleideten Jungen, dem er diese ganzen Scherereien zu verdanken hatte. Ängstlich hatte er sich an Julian gedrückt. Todesangst schien ihm in die Glieder gekrochen zu sein. Julian spürte den harten Druck von Perlen und anderen Schmuck­gegenständen unter seinen Händen und Knien. Das waren die Sachen, die an dem Stand verkauft wurden – ehe er in dem Tumult umgerissen worden war. Julian hörte die Männer auf Französisch rufen, nervös, bösartig. Er stellte sich lieber nicht vor, wie das Ganze enden würde, falls sie ihn und den Jungen in ihrem provisorischen Versteck aufspüren sollten. Und sicher war dieses Versteck keineswegs. Julians Französisch-Kenntnisse reichten aus um herauszufinden, dass die Männer dabei waren, nach dem Jungen und ihm zu forschen, und das mit ziemlich viel Nachdruck. Die Stimmen kamen bedrohlich näher. Außerdem hörte es sich so an, als würden sie systematisch mit ihren schweren Stiefeln gegen die verschiedenen Tische treten, offenbar weil sie ihr Versteck ahnten. Julian benötigte dringend einen Fluchtweg. Hinter ihm, nur wenige Meter und ein paar Stände entfernt, verlief die Kaimauer. Sollte er einfach ins Wasser springen? Durch eine Ritze in der Tischplatte, die ihn verdeckte, sah er plötzlich einen schwarzen Stiefel bedrohlich näher kommen. Im selben Augenblick hörte er ein lautes Krachen, spürte er einen dröhnenden Schmerz an der Stirn. Das gibt eine Beule, dachte er noch. Im Nu hatte er sich hochgerappelt und nahm die Beine in die Hand. »Viens! Vite!«, rief er nur, für mehr Anweisungen blieb keine Zeit. Der Junge lief ihm hinterher. Sie ließen die letzten Stände hinter sich, rempelten noch ein paar Passanten um und stürzten sich ohne lange zu überlegen mit einem lauten Schrei in das Hafenbecken. Julian tauchte unter eine der vielen Segelyachten, die dort vor Anker lagen und deren hohe, weiße Masten das Bild bestimmten. Er war froh, dass er heute Morgen keine lange Hose angezogen hatte. Die hätte ihn jetzt unter Wasser nur behindert. Hinter dem Boot tauchte er auf. Er hatte keine freie Sicht auf den Kai, aber er hörte lautes Geschrei. Wahrscheinlich waren die Männer unschlüssig, was zu tun war, und schrien sich daher gegenseitig an. Dann hörte er ein lautes Platschen. Zumindest einer der Männer hatte offenbar die Verfolgung aufgenommen. Plötzlich zuckte Julian zusammen. Jemand stieß unter Wasser an sein Bein und schien es packen zu wollen. Instinktiv trat er nach hinten aus und schwamm sofort davon. Erst als er zwischen zwei Segelbooten wieder auftauchte und neben sich den Jungen vom Markt entdeckte, war ihm klar, dass er unter Wasser keine Feindberührung gehabt hatte. Julian fiel gerade nichts anderes ein, als dass er nicht einmal den Namen des jungen Burschen kannte, der ihm das alles hier eingebrockt hatte. Und obwohl das kaum der geeignete Moment sein konnte um sich bekannt zu machen, fragte er ihn in seinem schlechten Französisch danach. »Hamid«, kam die atemlose Antwort. »Julian!«, antwortete Julian, nahm die linke Hand kurz aus dem Wasser und deutete auf sich. Für mehr Vertraulichkeit blieb den Jungen keine Zeit. Denn fast gleichzeitig sahen sie von unten einen Schatten auf sich zu rasen. Wie auf Kommando tauchten sie in verschiedene Richtungen ab. Julian schoss durch die kühlen Fluten, als ginge es um sein Leben, und – wer weiß – vielleicht war es ja auch so. Im grünlichen Meerwasser sah er eine Ankerkette vor sich auftauchen. Er spürte, dass seine Lungen vorm Zerplatzen waren, und bewegte sich Richtung Wasseroberfläche. Aber er kam nicht oben an, denn der Griff, den er diesmal an seinem Bein spürte, war ein alles andere als freundschaftlicher. Jetzt hatten sie ihn! Jeder andere Junge wäre in Panik verfallen. Julian jedoch wusste und hatte es schon tausendmal erlebt: Ruhe bewahren, Panikattacken vermeiden, ein Stoßgebet zum Himmel – und irgendeine Lösung würde sich auftun. Und genau diese ein, zwei Sekunden Bewegungslosigkeit hatten die Aufmerksamkeit seines Gegners geschwächt. Julian strampelte instinktiv mit den Beinen und konnte so noch ein paar Meter vorankommen, ehe der Feind ihn wieder zu packen versuchte. Doch jetzt war Julian nah genug an der Ankerkette des Schiffs über ihm um danach greifen zu können. Er zog seinen Körper an die Kette, lehnte sich an sie und hatte nun einen Widerstand im Rücken, der es ihm ermöglichte, kraftvoll nach seinem Gegner zu treten. Mehrfach trat er den unheimlichen Angreifer, den er in der grünen Brühe nur schemenhaft erkennen konnte, gegen Arme, Bauch und Gesicht. Er zwang ihn damit, von seinem Opfer abzulassen und zurückzu­weichen. »Danke, Gott!«, dachte Julian noch, während er sich von der Ankerkette abstieß, diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Dann tauchte er auf. Endlich Luft!
An einem Schiffsrumpf entlang schwamm er auf die Kaimauer zu, an der zum Glück an dieser Stelle ein paar Stufen eingelassen waren. Erschöpft zog er sich an ihnen aus dem Wasser und stapfte hinauf. Rechts von ihm stand ein Denkmal mit der Büste eines berühmten Komponisten. Aber für Kunst hatte Julian jetzt keine Zeit. Er passierte ein altes Hafengebäude, das heute einem Fast-food-Restaurant, einem Souvenir-Laden und einer Eisdiele Raum bot. Vor ihm erstreckte sich ein Platz mit einigen geparkten Wagen. Im Hintergrund dehnte sich, leicht ansteigend, die Stadt mit den vielen historischen Gebäuden aus, die sich, zumeist in Pastell-Farbtönen, der Sonne entgegen reckten, darunter das alles überragende Hôtel-Dieu, das in seiner Majestät die anderen Häuser von hinten zu umarmen schien.
Ein paar Touristen blickten den Jungen verwundert an, gingen dann aber gleichgültig weiter. Das Geschrei auf der anderen Seite des Hafengebäudes, wo der Markt zu Hause war, schien sie mehr zu interessieren. Außerdem war das schon der zweite nasse Junge, der ihnen auf diesem Platz am Hafenbecken entgegenkam. Denn keine hundert Meter vor ihm, kurz davor die belebte Hafenstraße zu überqueren, befand sich Hamid. Er hatte eine deutlich sichtbare Wasserspur hinterlassen, der Julian nur nachzugehen brauchte. Aber nicht nur er. Und während Julian noch an den Verfolger dachte, der sich in diesem Augenblick hinter ihm aus dem Wasser zog, sah er dessen Komplizen, den Stämmigen mit dem Schmuddel-T-Shirt, bereits aus der Richtung, in der der Markt lag, die Straße entlang auf Hamid zu rennen. »Hamid! Attention!«, rief er über den belebten Platz und begann gleichzeitig Hamid im Laufschritt hinterherzueilen. Hamid wandte sich um und sah sofort die doppelte Gefahr: den Mann, der von rechts auf ihn zukam, und den Mann, der vom Hafenbecken kommend Julian hinterherlief. Ohne zu überlegen stürzte er sich in den lärmenden Verkehr auf der Straße vor ihm. Er löste damit ein wütendes Hupkonzert aus, kam aber heil auf der anderen Seite an. Er preschte in eine Straße, die leicht bergan zu einem Platz mit einer Kirche führte. Ihr Turm ragte weithin sichtbar aus dem Häusermeer heraus. Als sein wütender Verfolger es ihm gleichtun wollte, wurde er von einem der Autos erfasst. Der Fahrer, ungeduldig geworden, hatte nach der Verkehrsstörung, die Hamid verursacht hatte, die verlorene Zeit wettmachen wollen und heftig beschleunigt. Der Mann flog über die Kühlerhaube und fiel seitlich wieder herunter. Als er sich aufgerappelt und die andere Straßenseite erreicht hatte, war Hamid in der Menschenmenge verschwunden. Er wandte sich um zu seinem Kumpan, der in diesem Augenblick Julian erreichte, ihn brutal am Kragen packte und zur Rede stellte. Er nahm offenbar an, dass er ihn zu Hamid führen könne, weil er augenscheinlich mit ihm befreundet war. Julian stellte sich dumm, was ihm angesichts seiner beschränkten Französisch-Kenntnisse nicht schwer fiel. »Filons!«, rief ihm sein Kumpel von der anderen Straßenseite aus zu. Dass das verdolmetscht so viel bedeutete wie: »Hauen wir ab!«, konnte man auch ohne Fremd­sprachen­kenntnisse erraten, denn der Stämmige gestikulierte wild und zeigte in Richtung Innenstadt. Er hatte nämlich gesehen, was der Mann, der Julian wütend gegenüberstand, so schnell nicht registriert hatte: dass eine offensichtlich aufgebrachte Meute von Händlern, unter ihnen Dick und Anne, vom Markt her auf sie zugeeilt kam. Irgendwo in der Ferne ließ sich jetzt auch das eigenwillige französische Martinshorn hören. Und plötzlich war der Mann, der Julian eben noch bedroht hatte, verschwunden.
 
»Mensch, Julian!«, rief Dick sichtlich erleichtert. Anne war vor Schreck ganz blass geworden. Beide kamen eilig auf Julian zugeschritten und hielten das Abenteuer für überstanden. Doch Julian sagte nur: »Kommt mit!«, gab ihnen einen Wink und ging mit ihnen zur nächsten Ampel, damit sie die mehrspurige Straße gefahrlos überqueren konnten. Die aufgebrachten Franzosen sahen, dass sie nicht mehr viel gegen die Unruhestifter ausrichten konnten, und zogen es vor, ihre umgestürzten Tische wieder in Ordnung zu bringen und der Polizei, die unterdessen am Marktplatz eingetroffen war, ein paar Erklärungen zu geben.
»Was ist denn los, Julian?«, wollte Dick wissen, als sie die andere Seite erreicht hatten.
»Wir müssen ins Hotel zurück«, meinte Anne. »Du bist klitschnass!«
»Ich will erst wissen, wo Hamid abgeblieben ist«, erklärte Julian.
»Hamid?«, hakte Dick nach.
»Ja, so heißt der Junge, den die beiden Banditen gejagt haben.«
»Und wahrscheinlich immer noch jagen«, ergänzte Anne besorgt. »Trotzdem musst du jetzt erst mal verschnaufen. Da vorne ist eine Bank.« Sie meinte eine Parkbank wenige Meter vor ihnen am Rand der breiten, palmbeschatteten Promenade. Julian ließ sich nicht lange bitten und setzte sich. Links und rechts von ihm nahmen seine Geschwister Platz. Endlich konnte Julian ausruhen und zu sich kommen, verschnaufen, verarbeiten. Was war geschehen?
 
Es war der erste Tag ihres als Höhepunkt der Sommerferien geplanten Urlaubs in Südfrankreich. Onkel Quentin, ein begnadeter Erfinder und Ingenieur, war von seiner Firma in Mittel­england nach Südfrankreich geschickt worden, um am Stadtrand von Marseille die Endmontage einer Müllver­brennungsanlage zu überwachen, deren Computersteuerung er selbst entworfen hatte. Und das hieß: Urlaub auf Firmenkosten – zumindest für Julian, Dick und Anne. Denn Südfrankreich, das war die Côte d’Azur, das waren Sommer, Sonne, Strand und mehr. Es musste doch möglich sein, wenn die Firma ihrem besten Mitarbeiter die Strapazen einer langen Reise zumutete, noch ein zweites Hotelzimmer herauszuschlagen. Und selbst wenn die Firma sich quer gestellt hätte, am Finanziellen wäre die Sache gewiss nicht gescheitert. Dafür hätte der angesehene Professor Kirrin, wie andere Leute Onkel Quentin anredeten, schon gesorgt. Der Maestro der Maschinentechnik, der vor einiger Zeit die Praxis in einem expandierenden Unternehmen der Lehre und Forschung an einer Technischen Universität vorgezogen hatte, nagte schließlich nicht am Hungertuch. Ein großer Wermutstropfen war natürlich, dass George und Timmy nicht hatten mitkommen können, aber George hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, Timmy in einen Käfig zu stecken und per Luftfracht zu verschicken, denn nur kleine Hunde durften im Flugzeug neben den Passagieren reisen. Und Timmy in den Ferien, wo sie endlich mal richtig viel Zeit für ihren besten Freund hatte, über eine Woche lang allein zu lassen, das hatte sie noch weniger übers Herz gebracht.
Da waren sie also –  Julian, Dick und Anne – in einem schicken Hotel im Süden von Marseille, gar nicht weit von der malerischen Côte d’Azur. Die heiße Mittelmeersonne hatte sie früh aus dem Bett geworfen und gegen elf hatten sie sich aufgemacht ein bisschen die Stadt zu erkunden. Und dabei hatte es sie naturgemäß Richtung Altstadt, Richtung Meer getrieben. Das Wasser – und den Fisch – konnte man ja förmlich riechen in dem Viertel, in dem ihr Hotel lag. Sie waren also Richtung Hafen flaniert und dann war Anne auf die ersten Stände dieses fast schon orientalisch anmutenden Marktes gestoßen. Teilweise kam man sich tatsächlich vor wie auf einem arabischen Basar, so eng war die Gassenführung zwischen den Tischen und Ständen, so heiß und schwül die Atmosphäre unter den Sonnenschirmen und provisorischen Überdachungen. Auch die Menschen, die hier die verschiedensten Sachen feilboten, von Obst und Gemüse bis hin zu afrikanischen Holzfiguren und wertvollen Schmuckstücken, hatten nicht selten einen fremdländischen Einschlag. Viele waren vermutlich Einwanderer aus Nordafrika, aus Algerien und Marokko und anderen einstmals französischen Kolonien. Anne hatte auf dem Markt unwillkürlich die Führung übernommen, denn sie sprach fließend und praktisch akzentfrei Französisch, weil sie ein Austausch­jahr in Frankreich verbracht hatte.  Für Julian und Dick hatte das zur Folge, dass sie ständig an irgendwelchen langweiligen Schmuck- oder Modeständen auszuharren hatten, die sie nicht die Bohne interessierten. Die beiden Jungs taten gerade mal wieder ihre Ungeduld kund, indem sie mit den Fingern auf dem Verkaufstisch herumzutrommeln begannen, vor dem Anne in ihrer Geldbörse wühlte, als plötzlich Unruhe aufkam. Ein kleiner Junge, Hamid, wie sie inzwischen wussten, drängelte sich durch die Menschenmenge zwischen den Ständen und sorgte so für Unmut unter den Passanten. Der wurde bald noch größer, denn als Hamid an den drei Geschwistern vorbei war, sahen sie auch schon die Köpfe seiner beiden Verfolger in der Menge auftauchen und rasch näher kommen. Der Hintere rief laut: »Au voleur!«, was den Verdacht nahe legte, dass Hamid ein Taschendieb war, der auf frischer Tat ertappt worden war. Beide hatten ein südländisches Aussehen und gehörten vermutlich ebenfalls der großen Schar von Einwanderern an, die für das Erscheinungsbild von Marseille so typisch waren. Der Vordere war schwer und stämmig und miserabel rasiert. Er trug ein völlig verdrecktes T-Shirt, das mal weiß gewesen sein musste. Der Mann hinter ihm war klein und drahtig und verkörperte mit seinem aufgekrempelten Karo-Hemd und der Angeber-Sonnenbrille offen­sichtlich den Coolen im Bunde.
Kurz nach dieser Begegnung hörten Julian und seine Geschwister es laut scheppern. Ganz in ihrer Nähe musste ein Stand umgekippt sein. Sie gesellten sich zu den Schaulustigen, die der Zwischenfall rasch gefunden hatte, und konnten mit ansehen, wie die beiden Männer Hamid zu packen und fortzuschleifen versuchten, wogegen der sich mit Händen und Füßen wehrte. In dem Tumult waren zwei Stände links und rechts umgestoßen worden, was bei den betroffenen Händlern für laute Unmutsbekundungen sorgte. Hamid biss dem Stämmigen, der ihn von hinten gepackt hatte, in den Arm und trat nach dem Coolen vor ihm. Der Coole stürzte nach hinten, fiel auf einen weiteren Tisch und riss diesen mit sich zu Boden. Äpfel, Pfirsiche, Nektarinen und Tomaten kullerten in rauen Mengen über den Weg. Ihre Besitzerin schrie Zeter und Mordio. Als der Coole aufstehen wollte, zerdrückte er mit der rechten Hand seine Hundert-Euro-Sonnenbrille, die ihm beim Sturz von der Nase gefallen war. Mit einem Fluchen schleuderte er die zerstörte Sonnenbrille durch die Gegend. Dabei verlor er erneut das Gleichgewicht und landete mit dem Hintern auf zwei Tomaten und drei reifen Pfirsichen, die er auf diese Weise zu einem ungenießbaren Mus zermantschte. Man durfte wohl davon ausgehen, dass sich seine Laune jetzt nicht mehr verschlechtern konnte. Als daraufhin der Stämmige begann wütend auf Hamid einzuschlagen, hielt es Julian nicht länger in der Menge der Zuschauer. Er preschte vor, stellte sich schützend vor Hamid, der gerade einer weiteren Ohrfeige auszuweichen versuchte, und rief: »Arrêtez, c’est un petit...«, was so viel heißt wie: »Sofort aufhören, er ist doch nur ein kleiner...«  Und schon verließen Julian seine nicht gerade glorreichen Französisch-Kenntnisse und er bat Anne für ihn zu dolmetschen. Gerade als er sich zu ihr umgedreht hatte, traf ihn ein heftiger Hieb im Nacken. Julian stürzte zu Boden. Anne schrie auf. Hamid nutzte die allgemeine Verwirrung zur Flucht und kroch unter dem nächsten Tisch, der noch stand, hindurch um im Marktgetümmel unterzutauchen. Doch er kam nicht weit. Der Coole, der eben gestürzt war und noch am Boden lag, hielt ihn am Fuß fest. Julian, der inzwischen wieder aufgestanden war, hatte es mit friedlichen Mitteln versucht. Jetzt hieß es handeln. Er trat dem Mann, der am Boden lag, auf den Arm, so dass Hamid wieder frei kam. Hamid kroch unter drei, vier Tischen hindurch und Julian folgte ihm, während Dick und Anne ihnen verzweifelt nachriefen. Julian fand sich zwischen stinkenden Abfällen, überraschten Füßen und abgegriffenen Kisten wieder. Er sah nur noch Beine: Tischbeine, Stuhlbeine und Menschenbeine. Immer wieder stieß er mit etwas zusammen, meistens waren es Menschenbeine. Hamid vor ihm hatte es allerdings noch viel schwerer. Er musste schließlich für beide den Weg durch diesen Markt-Untergrund bahnen. Schließlich gelangten sie zur nächsten Marktpassage. Hamid richtete sich vor den völlig verblüfften Augen einer molligen französischen Gemüsehändlerin auf und Julian folgte ihm, was die arme Marktfrau fast die Besinnung gekostet hätte. Zum Glück hatte ihre Nachbarin eine frisch angeschnittene Knoblauchzehe zur Hand, die sie ihr unter die Nase hielt um der drohenden Ohnmacht zuvorzukommen. Hamid und Julian hatten gerade noch Zeit die beiden aufgebrachten Männer brüllend um die Ecke pesen zu sehen, ehe sie sich wieder ins Getümmel stürzten. Hamid wählte diesmal den direktesten Weg der Flucht. Er stieg unter großem Oh und Ah der Umstehenden auf den nächstbesten Tisch, kletterte auf den Sonnenschirm über ihm und brach mit ihm zusammen. Der Sonnenschirm stürzte mit einem Knirschen in das Zeltdach des Nachbarstandes und es gab einen Riesen-Aufruhr. Viele Menschen flohen in Panik, rissen dabei weitere Stände um und versetzten auf diese Weise wieder andere in Unruhe, so dass schließlich ein heilloses Durcheinander herrschte, begleitet von den wüstesten französischen Schimpfwörtern, die schon deshalb an dieser Stelle nicht wiederholt werden können, weil sie schlicht unübersetzbar sind.
Niemand konnte nun mehr genau sagen, was wo gestanden hatte. Julian, der sofort in die Schneise getreten war, die der umgestürzte Sonnenschirm gebildet hatte, war gerade noch ins Auge gesprungen, wie sich Hamid nach links abzusetzen versuchte, und eilte ihm nach. Hinter einem umgestürzten Tisch, der zusätzlich durch ein abgerissenes Stück Plane verdeckt wurde, hatten schließlich beide Unterschlupf gefunden – zumindest für eine kurze Weile.
 
»Ich habe Angst«, sagte Julian, der Schuhe, Socken und sein nasses T-Shirt ausgezogen und ausgewrungen hatte. Jetzt, nachdem die Sonne ihn ein wenig getrocknet und gewärmt hatte, zog er sich wieder an.
»Man sieht’s. Du zitterst am ganzen Leib«, erwiderte Anne.
»Ach, das ist nur, weil ich frier’«, sagte Julian. »Aber das trocknet schon wieder. Nein, was ich meine, ist: Ich habe Angst um Hamid. Was wird mit ihm passieren, wenn die Männer ihn doch noch zu fassen kriegen?«
»Der ist längst auf und davon«, meinte Dick.
»Möglich. Trotzdem können wir noch nicht ins Hotel zurück. Nicht ohne Hamid! Ich will wissen, was er angestellt hat, dass die beiden Irren hinter ihm her sind wie der Teufel hinter der armen Seele. Da stimmt doch was nicht.«
»Ich vermute, das ist ein ganz gewöhnlicher Taschendieb«, sagte Dick. »Einer, der sich illegal hier aufhält – ob mit oder ohne Eltern – und mit Diebstahl über die Runden zu kommen versucht.«
»Na gut, nehmen wir mal an, das ist so. Aber warum rufen die Bestohlenen dann nicht einfach die Polizei und die Sache ist geritzt? Stattdessen veranstalten die so einen Affenzirkus und bringen sich womöglich noch selber in den Knast.«
»Südländisches Temperament. Vielleicht sind einfach die Nerven mit ihnen durchgegangen«, meinte Anne.
»Nee, nee, Leute. Ich sage euch: Da steckt mehr dahinter.«
»Vielleicht hat er was geklaut, was die Männer unbedingt brauchen, was aber illegal ist, und deswegen wollen die keine Polizei.«
»Gar nicht mal schlecht kombiniert, Dick. Aber eines dürfte klar sein.«
»Nämlich?«
»Dass wir auf keinen Fall länger untätig hier herumsitzen können. Mir ist nämlich mächtig kalt! Meine Hose ist immer noch pitschnass.«
Mit diesen Worten erhob sich Julian von der Bank und nahm Hamids Fährte wieder auf. Er bog in die Straße ein, in der er den Jungen zuletzt gesehen hatte. Die Straße stieg, gesäumt von mehrgeschossigen  Jugendstil-Häusern, leicht an und nach ein paar Hundert Metern erreichten sie einen kleinen Platz mit einer alten Kirche. »Wir sollten mal einen Blick da reinwerfen«, schlug Julian vor.
»Willst du beten?«, erkundigte sich Dick.
»Ach, ein kleines Dankgebet, dass ich noch lebe, kann sicher nicht schaden. Aber dafür brauche ich keine Kirche.«
»Mir wär’s manchmal lieber«, entgegnete Anne schnippisch, »er packt dich bei den Schultern und hält dich davon ab, immer so waghalsige Sachen zu machen.«
»Also, wozu jetzt in die Kirche? Was hast du vor?«
»Stellt euch mal vor, ihr seid auf der Flucht vor solchen miesen Typen, wie wir sie eben erlebt haben. Ihr seid völlig fertig und könnt nicht mehr. Fällt euch etwas ein, wo ihr vielleicht versuchen würdet euch in Sicherheit zu bringen, wenn ihr zufällig daran vorbeikämt?«
»Eine –«
»– Kirche?«
Durch das große Portal betraten die drei Geschwister das im gotischen Stil errichtete Gotteshaus. Eine endlose Reihe von Holzbänken vor einem bunt leuchtenden Altarraum empfing sie, als sie in die andachtsvolle Stille und Kühle des Kirchenschiffs traten. Alle Fenster links und rechts und hinter dem Altar schillerten, vom Tageslicht beschienen, in den bunten Farben der Glasmalerei. Links und rechts des Mittelgangs, durch den Anne schritt, gab es ein paar betende Menschen, aber von Hamid war nichts zu sehen. Dick ging den linken, Julian den rechten Gang ab und sie alle blickten suchend in die Reihen der Bänke, an denen sie vorbeikamen. Julian näherte sich nun dem Beichtstuhl, der rechts von ihm lag. Einem Impuls folgend betrat er den für den Pfarrer vorgesehenen Teil des Beichtstuhls und zog den Vorhang zu. Er spürte, dass jenseits der hölzernen Trennwand mit dem halb durchsichtigen Gitter jemand angstvoll atmete. »Hamid?«, fragte er leise.


Fünf Freunde ... im Rachen des LöwenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt