Kapitel 11: Schon wieder im Rachen des Löwen!

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Julian fing schon an zu frieren, als Anne mit der Schnur wieder auftauchte. Er atmete tief ein, klemmte sich die Schnur zwischen die Zähne und zögerte einen Moment: Wollte er da wirklich hinein? Dann sprang er einfach und tauchte ab. Für Anne und Dick begannen bange Momente des Wartens.

Julian schwamm einfach auf das Licht zu. Es wurde rasch heller. Er passierte einen schmalen Durchgang, der Dick vielleicht Probleme machen würde. Dann tauchte er auf – und es war taghell! Julian schlüpfte an Land und fand sich auf dem Boden eines Schachts wieder, dessen Wände aus unregelmäßigem, vielfach gezacktem und steil empor­ragendem Felsgestein bestanden. Über ihm aber, in etwa achtzig Metern Höhe, war der wolkenlose Himmel von Frankreich zu sehen. Zivilisationsmüll verunstaltete den spärlich mit Moosen und dürren Gräsern bewachsenen Boden: vergilbte Chipstüten, leere Wasserflaschen und Papier. Vielleicht hatten Wanderer ihren Abfall einfach von oben hinuntergeworfen, vielleicht aber gab es auch einen anderen Grund. Dafür sprach eine Treppe, die links von dem Wasserbecken, dem Julian entstiegen war, in einem Winkel lag und aus dem Schacht hinauszuführen schien. Julian entschloss sich der Sache nachzugehen, ehe er mit der Schnur, die er am Ufer mit einem Stein beschwert hatte, seine Geschwister nachholte. Er bog um die Ecke. Die Treppe führte zu einer rostigen Stahltür mit einem vergitterten Fenster oben in der Mitte. Sie schien zu einem mit der Rückseite in den Fels gemauerten Häuschen zu gehören, so dass nur durch diese Tür und die Hütte, zu der sie gehörte, ein Weg aus dem Schacht führte. Julian tastete sich heran, wagte einen vorsichtigen Blick ins Innere und traute seinen Augen nicht: Auf dem Boden eines schmuddeligen Mittelgangs kauerte Hamid.

»Mensch, das dauert aber lange!«, wunderte sich Anne. »Sollen wir einfach hinterherspringen?«

»Das halte ich für keine so gute Idee. Wir sollten Ruhe bewahren und uns einfach an die Abmachungen halten. Julian weiß schon, was er tut.«

»Na, du hast ja wieder die Ruhe weg. Vielleicht ist ihm was passiert.«

»Dann hätte er wohl wenigstens noch die Zeit gehabt ein Mal an der Schnur zu ziehen.«

»Mir gefällt das alles nicht. Wenn in zehn Minuten nichts passiert ist, springe ich hinterher – Nylon hin oder her.«

Hamid, der zwar eine schicke, neue Hose anhatte, aber sonst ziemlich mitgenommen aussah, glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er Julian an dem vergitterten Fenster sah. Er strahlte über das ganze Gesicht. Dann betrat er einen türlosen Nebenraum und kehrte mit einem zweiten Jungen in Julians Blickfeld zurück. Das war ohne Zweifel Sylvain Martinez. Die Ähnlichkeit mit Martinez, vor allem dem jüngeren Martinez, den Julian von den vielen Siegerfotos kannte, war verblüffend. Mit Zeichensprache, Händen und Füßen, verständigten sich die drei Jungen. Die gefangenen Kinder gaben ihm zu verstehen, dass man mit äußerster Vorsicht vorgehen müsse, da die Entführer nicht weit seien. Offensichtlich befanden sie sich im selben Haus, hinter der Holztür, die Julian am anderen Ende des Korridors sah, in den er durch die Öffnung hineinblickte.

»O.k., umdrehen!«, rief Anne und begann sich umzuziehen. Sie waren übereingekommen, dass zunächst Anne als die leichtere und wendigere von beiden Julian hinterher­schwimmen sollte. »Du kannst dir inzwischen was einfallen lassen, wie wir die Klamotten trocken durchs Wasser bekommen. Mir scheint, da drüben dauert es ein bisschen länger, und ich hab' keine Lust halbnackt in der Gegend herumzuturnen. Also lass dir mal was einfallen, Dick, ja?«

»Bin ich Einstein?«, gab Dick zurück.

»Das nicht, aber ich finde, du bist auf einem guten Weg.«

Ein kurzes Wasserplätschern signalisierte Dick, dass er sich wieder umdrehen konnte.

Als Anne auf der anderen Seite auftauchte und Julian nicht ausmachen konnte, begann sie laut nach ihm zu rufen. Julian kam wie ein geölter Blitz um die Ecke geflitzt und bedeutete ihr mit dem Zeigefinger auf den Lippen, dass sie still sein solle. Eiligen Schrittes trat sie auf Julian zu und bat um Aufklärung.

Fünf Freunde ... im Rachen des LöwenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt