Kapitel 9: Muss Anne sterben? (1)

806 9 4
                                    

»Hast du noch mal die Wasserflasche für mich?«, stöhnte Dick. Der Wanderweg durch die karge Hügellandschaft der Provence bot wenig Schatten. Das Klima war so trocken, dass nur Pinien und Gewächse, die offensichtlich mit wenig Wasser auskamen, in der Gegend gediehen, die die Kinder für ihre Expedition gewählt hatten. Ein Zug hatte sie nach St.-Périer-en-Provence gebracht. Mit dem Taxi ging es dann weiter nach Vaupière, einer kleinen Ortschaft mit vielleicht tausend Einwohnern. Wie ausgestorben wirkten einige Gehöfte. Viele Bauern hatten das armselige Landleben aufgegeben und waren in die Stadt gezogen. Julian konnte sich auch kaum vorstellen, was außer Olivenbäumen in dieser Gegend noch wachsen sollte. Der Wanderweg stieg steil an, er folgte einem Taleinschnitt, der, je höher sie stiegen, desto mehr einer Schlucht ähnelte. Grillenzirpen erfüllte die flirrend-heiße Luft.

»Ich kann nicht mehr!«, ächzte Anne.

»Pause!«, war auch Dicks Votum. Sie setzten sich auf ein paar Felsbrocken am Wegesrand, die ein Feigenbaum beschattete. »Hey, Feigen!«, rief Anne, als sie, eher zufällig, nach oben blickte. Sie stellte sich auf den Felsen und pflückte ein paar der fetten, grün-roten Früchte von einem Ast, der tief herabhing. Der Baum stand am Rand einer Obstplantage, die sich weitläufig hinter ihnen ausdehnte und wahrscheinlich künstlich bewässert wurde. »Verhungern werden wir also hier nicht!«

»Na, wenn ich mir Dicks riesigen Rucksack ansehe, besteht diese Gefahr sowieso nicht.«

»Alles technische Gerätschaften, damit ich euch nachher wieder aus der Klemme helfen kann«, stellte Dick klar.

Anne reichte den Jungen ein paar der geernteten Früchte.

Julian verzog skeptisch das Gesicht. »Danke, äh, was sind das?«

»Feigen«, wiederholte Anne.

»Danke, du, äh, ich glaub', da steh' ich nicht drauf.«

Auch Dick lehnte das Angebot ab. »Danke, ich hab' noch Riegel im Rucksack.«

»Pflaumen«, beschwerte sich Anne.

»Pflaumen?«, erwiderte Julian nicht ganz ernst. »Ich denk', das sind Feigen.«

»Na dann eben: Feiglinge! Ihr seid gemeint, ihr –«

»Pflaumen«, brachte Dick den Satz zu Ende.

»Also, wenn wir Pflaumen sind, dann bist du feige!«, behauptete Julian.

»Feige, ich?«

»Du weißt doch: Man ist, was man isst.«

»Dann bin ich ja 'n wahrer Kriegsgott: Mars«, rief Dick begeistert aus und biss in den gleichnamigen Schokoriegel. Alle lachten.

»Ich gebe zu bedenken, dass wir als Christen ja nicht an heidnische Gottheiten glauben, sondern an Jesus«, sagte Julian schließlich.

»Ein Glück!«, rief Anne. »Denn wenn ein Kriegsgott aussehen dürfte wie Dick, dann würde ich garantiert vom Glauben abfallen.«

»Kinder«, meinte Julian, »ich glaub', es wird Zeit, dass wir wieder aufbrechen. Noch ein paar Gespräche auf diesem Niveau und wir werden noch völlig plemplem.«

»Hier im Schatten ist aber die Sonnenstich-Gefahr geringer.«

»Trotzdem. Wir müssen zusehen, dass wir vor Sonnenuntergang in der Felsenregion sind, von der uns der Bauer unten in Vaupière erzählt hat. Und dass ihm fremde Typen aufgefallen sind, spricht eigentlich auch dafür, dass wir hier auf einer heißen Spur sind.«

»Vielleicht wollte der sich auch bloß wichtig machen«, sagte Anne und packte sich den schweren Rucksack wieder auf die Schultern. »Die anderen waren ja alle nicht so auskunftsfreudig. Als hätten sie noch nicht bemerkt, dass der Zweite Weltkrieg vorbei ist!«

Fünf Freunde ... im Rachen des LöwenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt