Kapitel 12: Gefangen!

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Anne tauchte in der Höhle wieder auf. Natürlich würden die Gangster die Verfolgung aufnehmen. Ihre Hoffnung war, dass sie wie Dick in dem Loch stecken bleiben würden, aber eine Garantie darauf gab es natürlich nicht. Auf dem Boden, neben einigen anderen Utensilien, die Julian liegen gelassen hatte, fand sie Dicks Dynamo-Taschenlampe. Die konnte sie jetzt wirklich gut gebrauchen. Das Licht, das durch das Wasser in die Höhle drang, verfinsterte sich plötzlich, warf einen Schatten. Das waren ihre Verfolger. Rasch setzte Anne ihre Flucht fort. Sie stieg nervös in den Felsspalt, rutschte in der Hektik ein paar Mal ab und kam atemlos oben an der Stelle an, wo sie den tunnelartigen Gang verlassen hatten. Hinter ihr drangen Kletter­geräusche aus dem Spalt. Es galt keine Zeit zu verlieren. Aber eines brauchte sie unbedingt noch: Dicks Kletter­handschuhe aus dem zurück­gelassenen Rucksack. Anne leuchtete den Boden ab. Wo steckte er? Ein paar Meter links von ihr war ein dunkler Umriss zu erkennen. Ja, das war er. Sie wühlte fahrig darin herum, brauchte für ihr Gefühl viel zu lange, um fündig zu werden. Rollende Steine und ein geflüsterter Fluch verrieten ihr, dass ihr die Männer zwar dicht auf den Fersen sein mussten, aber sich mit dem engen Spalt offenbar schwerer taten als sie. Gut so! Nachdem sie die Handschuhe an sich genommen hatte, suchte Anne nach den Kreidestrichen, die ihr schon beim letzten Mal als Orientierungshilfe gedient hatten. Mit ihrem nassen T-Shirt machte sie jede der Markierungen unkenntlich, damit ihre Verfolger nicht von ihnen profitierten. Sie hoffte bald auf das Ende der Nylonschnur zu treffen. Da sie selbst ja ein Stück davon abgetrennt hatte, musste sie ein Stück bergauf steigen um sie wiederzufinden. Die von ihr selbst hinterlassenen Markierungen halfen ihr. Geduckt schlich Anne den Weg zurück, den sie gekommen waren, doch dann stieß sie unerwartet auf eine Verzweigung des Tunnelsystems, die nicht markiert war. Sie musste sie beim letzten Mal übersehen haben. Von der Nylonschnur war noch nichts zu sehen, weder in dieser noch in der anderen Richtung. Angestrengt dachte sie nach. Leider war ihr Orientierungssinn nicht der beste und die Angst vor den Männern schien es fast unmöglich zu machen, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihr Gedächtnis war wie zugemauert. Wie war das gewesen? Sie war nach rechts gegangen wie jetzt auch und... Wie war die Schnur verlaufen? Alles sah gleich aus. Beide Wege mit ihren scharfen Kanten und dem unförmig in den Gang hereinragenden Felsgestein wirkten vertraut und fremd zugleich. Aber ihr musste doch irgendetwas im Gedächtnis geblieben sein, irgendein Hinweis! Wenn sie nur einen klaren Gedanken hätte fassen können! Aber sie war genauso unruhig und zerfahren wie das unregelmäßige Flackerlicht von Dicks Dynamo-Lampe, mit der sie in die Finsternis hineinleuchtete. Hinter ihr wurden die Geräusche lauter. Sie vernahm Stimmen. Sie musste sich jetzt entscheiden. Dieser gewaltige, raketenförmige Tropfstein, der im nervösen Auf- und Abflammen der Taschenlampe erschien und wieder verschwand... Irgendwie war ihr, als wäre sie an dem schon einmal vorbeigekommen. Sie entschied sich für den Weg halb rechts. Im Laufschritt hastete sie vorwärts, so gut es in dem engen Gang ging. Die Lampe ließ sie jetzt aus. Die Gangster durften kein Licht sehen. Anne fror und schwitzte zugleich. Ihre noch ganz durchnässte Kleidung klebte unangenehm am Körper. Nach einer Weile wagte sie es, wieder auf den Boden zu leuchten. Jetzt musste sich doch endlich eine Spur von der Nylonschnur finden! Sie hatte ja gar nicht viel davon abgeschnitten. Und sie wusste auch noch genau, dass sie die Schnur wieder genau in die Mitte des Ganges gelegt hatte, damit man sie gut wiederfinden könne. War sie doch falsch gegangen? Sollte sie umkehren? Umkehren und womöglich den Gangstern in die Arme laufen? Nein, sie durfte sich jetzt nicht beirren lassen. Sie war doch eben so gut wie sicher gewesen. Ruhe bewahren! Weiterlaufen! Weiterlaufen und dann noch einmal leuchten - und dann gebe Gott, dass ich die Schnur sehe!

Minuten waren vergangen. Minuten, die Anne wie kleine Ewigkeiten vorkamen. Ihre Flucht kostete Kraft und bereitete Schmerzen. Denn immer wieder stieß sie mit Armen oder Beinen gegen unerwartete Hindernisse oder kam mit dem Kopf gegen die unebene Decke. Am schlimmsten war aber die Ungewissheit, ob sie überhaupt auf dem richtigen Weg war. Sie hielt inne, atmete durch. Dann hielt sie die Luft kurz an und lauschte: Hinter ihr war kein Laut mehr zu hören. Doch sie wusste: Wenn nicht sofort diese kleine, weiße Linie im Strahl der Lampe auftauchen würde, gab es keine Hoffnung mehr. Bitte, bitte, bitte, Gott, Nylonschnur, Nylonschnur, Nylonschnur, stammelte sie im Geiste vor sich hin. Dann kam der Augenblick der Wahrheit: Sie betätigte den Dynamo. Anne konnte einen Jubelschrei nur mit Mühe unterdrücken: Matt-weiß schlängelte sich die Schnur durch den engen Gang, bis sie sich dem schwachen Lichtstrahl entwand. Offenbar folgte Anne der rettenden Orientierungs­hilfe schon ein paar Minuten. Und das machte ihr auch gleich wieder Angst: Wenn die Gangster auf die Schnur aufmerksam würden, wäre es ein Leichtes ihr auf der Spur zu bleiben und sie am Ende einzuholen. Rasch griff sie nach dem schmalen Bändchen und begann es sich um das Handgelenk zu wickeln. Gleichzeitig setzte sie ihre Flucht fort. Allmählich wich die Angst Zuversicht und Erleichterung. Wenn sie sie bis jetzt nicht gefasst hatten - leichter würde es von nun an jedenfalls nicht mehr. Zwar war Anne noch nicht in Sicherheit, aber sie wünschte ihren Verfolgern auf alle Fälle viel Spaß dabei, in der Finsternis den rechten Weg zu finden.

Fünf Freunde ... im Rachen des LöwenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt