Kapitel 6: Das Zug-Gespenst (2)

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»Wohin fährt der uns eigentlich?«, fragte Dick, dem aufgefallen war, dass Roger eine völlig andere Strecke fuhr als beim letzten Mal.

»Er sagt, wir sollten nicht nervös werden, wir seien gleich da.«

Der Bahnhof von Marseille lag in Sichtweite. »Zum Bahnhof?«, wunderte sich Julian. Dann sah er den einstigen Rennweltmeister bereits vor der Eingangshalle stehen, Sandrine und einen großen Koffer an seiner Seite. Roger fuhr vor und die Kinder stürzten aus dem Wagen. Das Pärchen begrüßte sie mit knappen Worten. Martinez sah immerhin etwas aufgeräumter aus als beim ersten Aufeinandertreffen. Viel Grund hatte er allerdings nicht dazu. »Die Entführer haben angerufen. Wir sollen das Geld in einem Koffer aus dem Fenster werfen – im Zug nach Lyon.«

»Wann?«

»Na, jetzt gleich! Sandrine und ich sollen gemeinsam den Zug um halb zwei über Avignon nach Lyon nehmen.«

»Na, dann schlage ich vor, wir lösen schnell noch drei Karten und ab geht die Post!«, ließ Julian übersetzen. Mit einem Lächeln zückte Sandrine die drei bereits bezahlten Karten.

Wenig später saßen sie zu fünft in einem Erste-Klasse-Abteil. Julian erfuhr das weitere Vorgehen. Ein Anruf der Entführer auf Martinez’ Mobiltelefon sollte das Signal zum Hinauswerfen des Koffers sein, den das Renn-Ass übrigens genau nach den Angaben der Entführer gekauft hatte. »Da müssen wir wohl erst die Scheibe einschlagen«, befand Dick. »Die Jungs haben wohl zu oft vor der Flimmerkiste gesessen. Im Film mag so was ja gehen, aber in einem modernen TEE?«

»Warten wir erst mal die Instruktionen ab. Völlig auf den Kopf gefallen sind unsere Jungs auf jeden Fall nicht«, meinte Julian.

Während der Zug durch die südfranzösische Hügellandschaft glitt, warteten alle mit fiebriger Ungeduld auf das Kommende. Sandrine, die sich zwei Kaffees ins Abteil hatte kommen lassen, musste schon nach einer halben Stunde aufs Klo.

Trotz der allgemeinen Anspannung hatte Martinez noch genug Humor für die scherzhafte Bemerkung, sie, Sandrine, sei ja wie ein Schul­mädchen. Zwei Kaffees und schon auf dem Weg zum Klo. Sandrine konterte sogleich, dass sie ja wenigstens ein Erste-Klasse-WC aufsuchen könne, wohingegen ihr lieber Ehemann auf dem Bahnhof mit der wenig erfreulichen Bahnhofstoilette habe vorlieb­nehmen müssen.

»Ein echtes Luxusmädchen, oder?«, lachte Martinez. »Selbst das Klo muss erste Klasse sein!«

Julian, der kaum etwas von dem Dialog verstanden hatte, zog es vor, zu ernsteren Themen zurückzukehren: »Was haben Sie eigentlich mit den Gänsen gemacht?«

»Mit den Gänsen?«, vergewisserte sich Anne.

»Du erinnerst dich vielleicht, dass Martinez sich gewundert hat, weil die Gänse bei seiner Ankunft nicht frei herumliefen. Wenn ihm daran lag, dass sie auf dem Grundstück waren, konnte er sie doch jetzt für den Rest der Nacht immer noch rauslassen.«

»Verstehe«, nickte Anne.

Natürlich habe er die Gänse danach rausgelassen, versicherte Martinez. Auf die engstirnige Epervier, die alte Schreckschraube, habe er, wie Anne vorsichtig übersetzte, »gepfiffen«. Komisch, ließ Julian mitteilen, dass die Gänse danach trotzdem nicht angeschlagen hätten, als die Entführer das Grundstück betraten. Oder hätten alle so einen seligen Schlaf gehabt, dass man nichts habe hören können?

»Müde waren wir schon«, ließ Martinez erklären, »aber die Gänse hätten wir bestimmt gehört!« Sandrine nickte zustimmend.

»Demnächst muss ich noch mal ein paar sehr ausführliche Gespräche mit Ihren beiden Angestellten führen: mit Roger und vor allem mit Kalil.«

Fünf Freunde ... im Rachen des LöwenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt