Kapitel 9: Muss Anne sterben? (2)

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Julian sah, wie die Wurzel sich vollends aus der Mulde löste, und griff instinktiv danach. Sein Herz schlug wie wild dabei. Er hatte jetzt keinen Halt mehr – außer Dick. Seine Füße fühlten sich an, als würden sie gleich abreißen. Aber er biss auf die Zähne.


Julian hatte keine Ahnung, was für ein Drama sich unterdessen oben abspielte. Mit aller Gewalt versuchte Dick zu verhindern, dass die Rucksäcke nachgaben, aber es rutschte unter ihm. Er hatte den enormen Zugkräften kaum noch etwas entgegenzusetzen. Und gleichzeitig musste er noch das Seil vorbereiten und werfen. Dabei brauchte er doch seine Hände um sich am Boden festzukrallen, Halt zu finden. »Herr im Himmel!«, dachte er nur.


»Herr im Himmel!«, flehte Anne, als sie ihren beginnenden Fall spürte. Doch es war nur ein kurzer Ruck, ihr Absturz jäh gestoppt worden. »Du lässt den Strauch einfach nicht los, klar?«, rief Julian, der krampfhaft mit beiden Händen die abgerissene Wurzel des Strauches umklammert hielt. Nur mit den Ellenbogen hatte Julian jetzt noch eigenen Halt am Gestein, was auch Dick oben rasch bemerkt hatte, denn seine Last hatte sich deutlich vermehrt. Trotzdem kam endlich das Lasso geflogen. Es war aber nicht lang genug um Anne unten in der Tiefe zu erreichen und hing außerdem viel zu weit rechts. Julian hatte es geahnt. »Ich kann nicht mehr!«, schrie Anne. »Echt, ich kann nicht mehr!«

Es war aussichtslos: Das Seil war unerreichbar, Anne konnte nicht mehr und Julian auch nicht. »Gott!«, rief er nur. Die Seilschlaufe baumelte rechts von ihm auf Höhe des Strauchs in den Abgrund. Wenn Julian die Wurzel losließ, stürzte Anne ab, wenn er sie nicht losließ, konnte er nicht einmal versuchen nach dem Seil zu greifen. Der Schmerz an seinen Füßen war unerträglich, es war brüllend heiß und der Rest war auch nicht gerade einfach. Julian war sich nicht mehr sicher, ob überhaupt einer von ihnen dieses Abenteuer überstehen würde. Mit dem Mute der Verzweiflung schrie er nach oben: »Du musst das Seil zum Schaukeln bringen, es ist zu weit rechts!« Er hoffte, dass sich die Schlaufe dann in einem günstigen Moment im Geäst des Strauches verfangen und sich beim Hochziehen um einen der stärkeren Äste in Wurzelnähe zuziehen würde. Dann konnte man wagen ihn mit Anne hochzuhieven. Aber vorher musste das Seil zu schwingen beginnen. »Wenn ich ›jetzt‹ rufe, ziehst du ganz schnell, o.k.?«

»O.k.!«, brüllte Dick zurück und begann hektisch an dem Seil zu rucken um es zum Schwingen zu bringen.

Julian sah, wie das Seil neben dem Strauch zu tänzeln begann, aber es war zu wenig. Das Seil war immer noch zu weit weg vom Strauch. »Nicht genug!«


Dick hatte das Lasso im Hinunter­werfen mit einem geschickten Dreh halb um einen unbeweglichen Felsen rechts neben sich geschlungen und von da aus verschwand es in der Tiefe. Er konnte so die Reibung des Seils am Gestein zur eigenen Kräfteentlastung nutzen, wenn jemand daran hing. Das würde auch bitter nötig sein, schließlich musste er auch Julian weiterhin sichern. Der Nachteil war nur, dass das Seil, durch den Felsen leicht nach rechts abgelenkt, jetzt nicht dicht genug an Julian und Anne herangekommen war. Und Dick konnte seine Position nicht verändern um das zu korrigieren. Er musste sich dringend etwas Neues einfallen lassen. Mit der freien Hand kramte er in seinem Rucksack. Darin befand sich eine Art großkalibrige Erbsenpistole. Wo steckte sie nur? Da! Geladen, natürlich. Dick legte an, zielte und mit einem lauten Plopp kam ein tischtennisball­großes Gummigeschoss aus dem Lauf geschnellt und sauste in Richtung Abgrund. Doch Dick hatte das Seil verfehlt, und zwar um gut und gerne zwanzig Zentimeter. Eine ruhige Hand zu behalten war unter diesen Umständen leider völlig unmöglich. Unter ihm ruckten die Rucksäcke, an seiner anderen Hand hielt er das Seil. Dick zielte noch einmal. Zwei Schuss hatte er noch. Mit mehr als drei Kugeln konnte man seine Erfindung nicht laden. Diesmal sauste das schwere Geschoss um Haaresbreite an dem in die Tiefe hängenden Seil vorbei. Jetzt hatte Dick noch eine dritte und letzte Chance. Wenn er die vertat, war alles aus, aus und vorbei. »Komm jetzt!«, machte er sich selbst Mut. Dick zielte. Dick zitterte. Dick drückte ab. Die schwarze Kugel schoss aus dem Lauf und diesmal traf sie genau ins Ziel! Wie gepeitscht schnellte das Seil an seinem oberen Ende nach oben und fiel, nachdem es fast über den Rand der Schlucht geschaut hatte, zurück.

Fünf Freunde ... im Rachen des LöwenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt