Kapitel 16: Der F-2100-Di

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»Eines hab' ich noch nicht verstanden«, sagte Anne und blickte dabei mit halb zugekniffenen Augen von der Terrasse hinunter auf die Croisette, die malerische, sonnendurchflutete Küstenstraße von Cannes. »Wie sind die Millionen nun eigentlich von Sandrine zu den Gangstern gekommen?«

»Na, ganz einfach«, sagte Dick. »Monsieur Martinez hat uns erzählt, dass er auf dem Bahnhof kurz auf die Toilette gegangen ist, nicht wahr, Monsieur Martinez?« Martinez nickte, als er verstanden hatte, was Julian sagte. »Nun musste der Komplize nur noch auf das verabredete Zeichen warten und mit einem Handgriff war der Koffer ausgetauscht. Und wenn Martinez sich nicht auf die Toilette begeben hätte, wäre es immer noch ein Kinderspiel gewesen zwei völlig gleich aussehende Koffer im Gewimmel eines so großen Bahnhofs auszutauschen. Wahrscheinlich war dieser Komplize derselbe, der auch das Telefonat mit Martinez führte, als wir im Zug waren.«

»Deswegen hatten die Gangster auch genau beschrieben, wie der Koffer aussehen sollte.«

»Genau. Martinez kaufte vermutlich das Duplikat eines Koffers, den die Gangster schon längst bei sich im Schrank stehen hatten.«

»Aber warum hat man einen vollen gegen einen leeren Koffer ausgetauscht? Das war doch ein unnötiges Risiko«, wunderte sich Anne. »Martinez hätte nur ein einziges Mal den Koffer nehmen müssen und dann –«

Dafür hatte Martinez eine Erklärung: Sandrine, berichtete er, sei ein total verzogenes und verwöhntes Mädchen, das die geringste Anstrengung gescheut habe – immer schon. Selbst die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen sei ihr schon zu viel gewesen. Sicherlich hätten die Gangster es lieber gesehen, wenn der andere Koffer genauso schwer gewesen wäre wie der mit dem Geld, aber er könne sich gut vorstellen, wie Sandrine ihnen die Hölle heiß gemacht und gedroht hätte alles platzen zu lassen. Denn sinnlos Lasten zu tragen, das wäre Sandrine ohne Zweifel schwer vermittelbar gewesen.

»Einleuchtend«, sagte Anne, »denn aus der Hand geben konnte sie den Koffer nicht, weil das Risiko zu groß war, dass jemand hineinsieht und den Schwindel aufdeckt.«

»Dino und seine Bande hatten also keine Wahl, wenn sie ihren Plan wie verabredet ausführen wollten«, schloss Julian. »Und so kam es dann zu dieser aberwitzigen Inszenierung mit dem Geisterkoffer im Zug, wobei noch einmal mindestens zwei von Gilberts Leuten im Einsatz waren. Ironie am Rande: Vorher stellte sich Sandrine sehr genau vor, wie schwer das Ding sein würde, aber nachher fehlt ihr die Fantasie ihren Umgang mit dem vermeintlich schweren Teil glaubwürdig aussehen zu lassen und sie fliegt genau deshalb auf.«

»Tja, wer mit Frauen versucht logisch zu arbeiten –«, warf Dick ein.

»Vorsicht!«, unterbrach Anne ihn drohend. »Und dieses Hotel ist wirklich nicht nach Ihnen benannt?«, wandte sie sich an das Renn-Idol, das neben seinem Sohn auf der anderen Tischseite saß. Ihr famoses Französisch erstaunte Julian immer wieder.

»Mais non!«, kam die Antwort. Aber eines sei sicher: Der Name Martinez bürge für Qualität, in der Küche wie auf der Piste. Alle lachten. Die Stimmung war ausgelassen, besonders bei Hamid, nachdem der Formel-1-Altstar ihm angeboten hatte, dass er seinen neuen Freund Sylvain jedes Jahr in den großen Ferien besuchen könne. Außerdem hatte Martinez Hamids Familie in Aussicht gestellt den Jungen mit einem Stipendium zum Besuch einer internationalen Schule in Casablanca zu unterstützen. Er habe ja schließlich Grund genug Hamid für seinen Mut zu belohnen. Ohne ihn wäre der ganze Fall vielleicht nie aufgeklärt worden. Hamid strahlte über das ganze Gesicht und wusste nicht, worüber er sich mehr freuen sollte: über die Aussicht, bald seine Eltern wiederzusehen, oder die, einige Zeit später zu seinen französischen Freunden zurückkehren zu dürfen, Stippvisite in England nicht ausgeschlossen.

»Danken wir Gott, dass er alles zu so einem guten Ende geführt hat«, sagte Anne.

»Und dass Julian erst mit achtzehn Führerschein machen darf«, ergänzte Dick in Anspielung auf ihre spektakuläre Flucht aus den Bergen.

Fünf Freunde ... im Rachen des LöwenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt