Kapitel 14: Die Rallye Marseille

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Auch die kleine Station der Gendarmerie von Vaupière erlebte den vermutlich aufregendsten Tag seit ihrem Bestehen, die Zeit der Französischen Revolution vielleicht ausgenommen. Anne hatte einige Mühe die Geschichte, die sie den Polizeibeamten mitzuteilen hatte, glaubhaft zu machen. Schließlich aber kamen sie alle in den einzigen Dienstwagen der Gendarmerie von Vaupière und brausten in Richtung Küste davon. Guillaume Grenadier ließ sich auf später vertrösten. Andere Dinge hätten jetzt Vorrang vor seiner Scheune. Da Grenadier die Welt schon länger nicht mehr verstand, fügte er sich ohne Aufbegehren in die spärlichen Erläuterungen der Gendarmen. Eine Polizeibrigade wurde aus St.-Périer-en-Provence angefordert um die Räuberhöhle im Gebirge auszuheben. Die Hütte, in der die Kinder fast zwei Tage gefangen gehalten worden waren, wurde von einem Dutzend schwer bewaffneter Polizisten umstellt, doch die mussten rasch feststellen, dass die Vögel ausgeflogen waren. Ohne Wagen konnten sie freilich nicht weit gekommen sein. Das hügelige Gelände wurde systematisch durchkämmt und bald hatte man zwei der Übeltäter gefasst: den Mann mit der Narbe und einen mit frischen Brandverletzungen...

Während dieser Ereignisse bewegte sich ein Schiff unter der Leitung von Etienne Cordelier, Hauptkommissar der Marseiller Küstenwache und Kapitän des Patrouillenbootes Murène II, äußerst zielstrebig auf einen bestimmten Punkt im Mittelmeer zu. Ein deutscher Junge mit einem Peilgerät Marke Eigenbau und ein etwas kleinerer Junge aus Marokko leisteten dabei wertvolle Dienste. Das Zielobjekt war rasch aufgespürt.

In der Villa des Rennfahrers Aristide Martinez schlossen der Hausherr und seine hübsche Gattin den so lange schmerzlich vermissten Sylvain endlich wieder in die Arme. Julian und Anne und einige Kriminalbeamte unter der Führung eines Kommissars namens Brigand standen daneben und blickten verschämt zur Seite, während Tränen der Freude flossen. Auch Anne und Julian hatten einen Kloß im Hals. Aber Julian hatte sich bald wieder gefangen, denn noch galt es einige drängende Fragen zu klären. Julian ließ zu diesem Zweck Kalil kommen. »Ich habe Grund zu der Annahme, dass er der Schlüssel zur Klärung dieses mysteriösen Falles ist«, ließ er Anne erklären. Kalil, ziemlich eingeschüchtert durch die strengen Anweisungen der Polizeibeamten, tauchte mit demonstrativer Unschuldsmiene vor der versammelten Runde auf. Julian schlug vor, dass Kalil sie zu den Freunden führen solle, mit denen er regelmäßig am Freitagabend Kalaha spiele, damit einige Ungereimtheiten geklärt werden könnten. Kalil willigte ein ohne mit der Wimper zu zucken und tat ganz so, als habe er überhaupt nichts zu verbergen. Seelenruhig saß er zwischen zwei Polizeibeamten auf der Rückbank des Polizeiautos.

»Ich nehm' den Zweitwagen«, erklärte der Formel-1-Star und fuhr kurz darauf mit einem roten Ferrari-Sportwagen vor. Neben ihm auf dem Beifahrersitz nahm Julian Platz. Anne saß allein auf der Rückbank. Brigand fuhr los, Martinez folgte. Sandrine blieb mit Sylvain zu Hause um sich um den Jungen zu kümmern, der jetzt dringend ein wenig Erholung benötigte.

»Hier spricht die Küstenwache!«, tönte es aus dem Megafon, das Cordelier auf der Murène II sich vor den Mund hielt. »Wegen dringenden Tatverdachts in einem Entführungsfall ist die Besatzung Ihres Schiffes festgenommen! Kommen Sie alle mit erhobenen Händen an Deck.« An Deck tat sich nichts. Niemand war zu sehen. Über dem Meer vor Marseille lag solche Hochspannung, dass man es knistern zu hören vermeinte.

Endlich wurde an Bord der Dolores – dort, wo vor kurzem Anne von Bord gesprungen war – ein dunkelhäutiger Matrose sichtbar, der in gebrochenem Französisch erklärte, die Dolores sei mit einer halben Tonne Sprengstoff beladen und sollte die Küstenwache nicht unverzüglich »abdampfen« – so könnte man wohl frei übersetzen –, werde hier gleich alles in die Luft fliegen, die Küstenwache mit ihrem Schiff eingeschlossen. In der Hand hielt er einen länglichen, schwarzen Gegenstand, auf dem er mit deutlich sichtbarer Geste einen Knopf zu drücken drohte.

Als sie an einer Ampel hielten, mussten Julian, Anne und Martinez verblüfft mit ansehen, wie Kalil plötzlich vor ihnen aus dem Wagen stieg und sich vor Schmerzen krümmte. Im Auto von Kommissar Brigand war folgendes passiert: Kalil hatte unvermittelt zu stöhnen und zu würgen begonnen. Offenbar war ihm übel geworden und er drohte sich zu übergeben. Rasch war einer der Polizisten ausgestiegen und hatte ihm von außen die Tür aufgemacht, damit er sich nicht im Wagen übergeben musste.

Fünf Freunde ... im Rachen des LöwenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt