# 39

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- Mona -

„Sehr schön“, sage ich und nicke Jonathan anerkennend zu, der die Geige und den dazugehörigen Bogen sinken lässt, „das hat sich doch schon sehr gut angehört.“
„Na ja, es geht“, Jonathan zuckt mit den Schultern, „ein paar Fehler waren noch drin und an einigen Stellen könnte ich auch noch ein bisschen flüssiger spielen.“
„Deine Fähigkeit zur Selbstkritik ist sehr löblich“, erwidere ich und deute mit einer Hand auf die freien Stühle von meinem Schreibtisch, woraufhin Jonathan auf einem davon Platz nimmt, „aber du solltest darauf achten, dass dieses selbstkritische  Denken nicht in Perfektionismus lähmt und ist im Grunde genommen nicht sehr förderlich. Weder für dich noch für deine Teilnahme am Wettbewerb.“
„Keine Sorge, ich pass schon auf“, erwidert Jonathan und verstaut seine Geige in dem aufgeklappten Geigenkoffer, der am Rand meines Schreibtisches steht, „aber durch den direkten Vergleich meines Spielens zu dem Spielen meiner Mutter sehe ich einfach, dass ich da noch ein bisschen was verbessern kann.“
„Oh?“ Während meine Augenbrauen sich vor Verblüffung heben, klappt Jonathan seinen Geigenkoffer zu und lehnt sich anschließend in seinem
Stuhl zurück. „Übt sie etwa mit dir?“
„Ja, seit ein paar Tagen. Und auch wenn ich nicht weiß, wie sie früher gespielt hat, bin ich mir sicher, dass sie immer noch genauso gut ist wie damals.“
„Ja, das denke ich auch“, sage ich und spüre, wie sich ein Lächeln auf meinen Lippen formt, „deine Mutter ist schließlich eine sehr talentierte Frau.“
Für einen Moment betrachtet Jonathan mich mit einem Ausdruck, den ich nicht ganz deuten kann, bevor er sich wieder etwas in seinem Stuhl aufrichtet.
„War ja klar, dass Sie das denken“, seufzt er und strafft seine Schultern, nur um sie anschließend ein wenig kreisen zu lassen.
„Wie bitte?“, frage ich und runzle die Stirn, woraufhin Jonathan ein weiteres Mal seufzt.
„Ich weiß Bescheid, Direktorin Berger.“
„Aha…ähm, okay…“, erwidere ich, immer noch verwirrt, „und hättest du auch die Güte mir zu sagen, worüber du Bescheid weißt?“
„Na ja…über meine Mutter…und Sie.“
W-Was?!
Romy hat ihm…von uns erzählt?!
Ich versuche, die Entgleisung meiner Gesichtszüge mit einem Räuspern zu überspielen, was mir jedoch eher mittelmäßig gelingt, wie ich an Jonathans amüsiertem Grinsen erkenne.
„Wow“, sagt er und lacht zu meinem Ärger auch noch belustigt auf, „wenn ich gewusst hätte, dass ich Sie aufgrund dieser Sache einmal so sprachlos und geschockt erlebe, hätte ich mir diesen Punkt für eine unserer Diskussionen aufgespart.“
„Schön, dass dich mein momentaner Gefühlszustand so unfassbar sehr erheitert“, entgegne ich trocken und richte mich etwas in meinem Stuhl auf, während ich Jonathan aus schmal geformten Augen mustere, „allerdings verstehe ich nicht, warum deine Mutter es für nötig befunden hat, dir von uns zu erzählen.“
„Na ja“, schief grinsend lehnt Jonathan sich wieder in seinem Stuhl zurück, „das hat sie ja auch nicht getan.“
„Wie bitte?“, ich blinzle irritiert und schüttle meinen Kopf, während ich versuche, die verwirrenden Gedanken in meinem Kopf zu sortieren, „aber woher wusstest du dann, dass…also…dass deine Mutter und ich…ähm…“
„Ja ja, ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen, Direktorin Berger. Das müssen Sie nicht näher erläutern“, unterbricht Jonathan mich und verzieht das Gesicht etwas, während ich ihm im Stillen dafür danke, dass er mir dadurch dieses erbärmliche Gestammel meinerseits erspart.
Wobei ich mir aber auch sicher bin, dass die Situation für ihn wahrscheinlich genauso unangenehm ist wie für mich…ich meine, welcher Sohn möchte schon über das Liebesleben seiner Mutter Bescheid wissen?
Mit einem Seufzer richtet Jonathan sich erneut in seinem Stuhl auf und fährt sich mit einer Hand durch seine Locken, bevor sich seine Augen wieder vollständig auf mich richten.
„Na ja, ich sag’s mal so…wenn Sie mit meiner Mutter in tiefster Dunkelheit schräg neben einer Laterne herumknutschen, müssen Sie sich nicht wundern, dass das jeder mitbekommt, der zufälligerweise aus dem Fenster sieht.“
„Oh…“
„Ja, das habe ich mir auch gedacht“, erwidert Jonathan trocken, während ich mir am liebsten mit der flachen Hand vor die Stirn klatschen würde.
So viel zum Thema, dass wir es langsam angehen lassen…
Aber vielleicht ist es auch gar nicht so schlecht, dass Jonathan darüber Bescheid weiß…dadurch sparen Romy und ich uns zumindest schon mal irgendwelche Ausreden oder Erklärungen gegenüber ihm…bleibt also nur noch eine Sache zu klären…
„Ich…ähm“, beginne ich und räuspere mich etwas, „ich weiß, das kam für dich vielleicht alles sehr überraschend und…ähm…plötzlich…“
„Ja, das kann man wohl sagen.“
„…aber ich würde dich trotzdem bitten, dass du das Ganze mit der notwendigen Diskretion behandelst und darüber Stillschweigen bewahrst, auch in deinem eigenen Interesse. Es spricht zwar an sich nichts dagegen, dass ich als Schuldirektorin ein etwas persönlicheres Verhältnis zu einem Elternteil meiner Schüler habe, aber es wird natürlich nicht gerne gesehen.“
„Glauben Sie wirklich, dass ich irgendwo damit angeben würde, dass meine Mutter was mit meiner Schuldirektorin hat?“, fragt Jonathan und zieht zweifelnd eine Augenbraue hoch, woraufhin ich mit einem weiteren Räuspern meinen Blick senke.
„Nein…vermutlich nicht“, erwidere ich leise und hole tief Luft, bevor ich wieder zurück zu Jonathan schaue, „und…es tut mir auch Leid, dass du das auf so einem eher zufälligen Weg
erfahren hast…da wäre ein Gespräch zwischen uns dreien wahrscheinlich die bessere Variante gewesen.“
„Na ja, jetzt weiß ich es ja“, erwidert Jojo und zuckt mit den Schultern, „um mich müssen Sie sich da wirklich keine Sorgen machen, Direktorin Berger. Ich werde Sie und meine Mutter nicht verraten.“
„Gut…danke, Jonathan“, sage ich und atme tief durch, „ich…ich kann mir vorstellen, dass das für dich wahrscheinlich alles etwas viel auf einmal ist, zumal deine Mutter ja erst seit kurzem von deinem Vater getrennt ist und ich…na ja…“
„Sie meinen, weil Sie eine Frau sind?“, fragt Jonathan und zuckt nach meinem stummen Nicken erneut mit den Schultern. „Um ehrlich zu sein ist mir das eigentlich egal. Ich meine, Sie machen meine Mutter glücklich und nach allem, was sie mit meinem Vater durchgemacht hat, hat sie das auch mehr als verdient.“
„Durchgemacht?“, frage ich und runzle die Stirn, „wie meinst du das, Jonathan?“
Nun ist es Jonathan, der die Stirn runzelt. „Hat…hat meine Mutter Ihnen nichts…davon…erzählt?“
„Wovon?“, frage ich und spüre, wie sich ein ungutes Gefühl in mir breit macht, „wovon hat sie mir nichts erzählt?“

- Romy -

„Oh, das ist aber schön, dass Sie uns heute Morgen auch noch mit Ihrer Anwesenheit beehren, Schwester Romy“, höre ich Katja über den Stationsflur hinweg rufen und verdrehe die Augen, bevor ich mich zu ihr umdrehe.
Diese Frau und ihre sirenenartige Stimme haben mir nach dem morgendlichen Stress gerade noch gefehlt…
„Es tut mir Leid, Frau Dr. Hillbach“, sage ich und bemühe mich um einen entschuldigenden Tonfall, während Katja mit verkniffenem Mund auf mich zustöckelt, was ihr Gesicht noch
mehr wie eine ziemlich hässliche Karnevalsmaske erscheinen lässt, „mein Bus stand aufgrund eines Unfalls im Stau und ein Ausstieg mitten auf der von Autos überfüllten Straße war leider auch nicht möglich. Deshalb hatte ich auch extra angerufen und Stationsschwester Michaela gesagt, dass…“
„Ihre fadenscheinigen Ausreden interessieren mich nicht“, schneidet Katja mir das Wort ab und rümpft abfällig die Nase, bevor sie mir den großen Aktenstapel, den sie unterm Arm trägt, unsanft gegen die Brust stößt, „hier, diese Akten müssen nach unten gebracht und abgelegt werden. Und am besten fragen Sie gleich noch nach, ob Sie den Kollegen unten im Archiv noch ein wenig helfen können. Soweit ich weiß haben die mit der vollständigen Digitalisierung der zu  archivierenden Akten mehr als genug zu tun, sodass es dort auch noch ausreichend Arbeit für Sie geben sollte.“
„Ähm, i-ich….“, stammle ich, während ich gleichzeitig versuche, den Aktenstapel, meine Handtasche und meine Jacke, die ich beim Betreten des Krankenhauses über meinen Arm
gelegt habe, so gut es geht zu balancieren, „eigentlich wollte ich mich erst einmal umziehen. Und soweit ich weiß, haben wir dafür doch extra Angestellte und sogar ein paar Werkstudenten, die sich um die Digitalisierung…“
„Na na na, nicht so vorlaut, Schwester Romy“, unterbricht Katja mich und hebt tadelnd einen Finger, „Sie können froh sein, dass ich Ihnen wegen Ihrer Verspätung keine Abmahnung erteile.“
„Abmahnung?“ Ich schnaube auf und spüre, wie Wut in mir aufsteigt. „Ich habe die Verspätung nicht zu verschulden! Es gab einen Unfall, sogar mit Krankenwageneinsatz, was
die Kollegen aus der Notaufnahme also sicherlich auch bestätigen können! Und abgesehen davon habe ich hier auf der Station Bescheid gegeben!“
„Das stimmt“, höre ich eine Stimme hinter mir sagen und mein Herz macht vor Erleichterung einen Sprung, als ich mich umdrehe und sehe, wie die große und rundliche Gestalt von Stationsschwester Michaela auf uns zukommt, bis sie schließlich neben mir stehen bleibt und Katja mit einem argwöhnischen Blick mustert.
„Schwester Romy hat angerufen und mir gesagt, dass sie sich etwas verspäten wird, weswegen ich Schwester Beatrice gebeten habe, so lange zu bleiben, bis Schwester Romy da ist. Insofern würde ich es begrüßen, Frau Dr. Hillbach, wenn Sie zukünftig etwaige Dienstplanänderungen mit mir absprechen und meine Schwestern nicht willkürlich umbesetzen würden, so wie Sie Schwester Romy und Schwester Corinna letztens eigenmächtig in die Notaufnahme versetzt haben, obwohl auf unserer Station mehr als genug zu tun gewesen ist.“
Ich muss mir von innen auf die Wange beißen, um ein Lächeln zu unterdrücken, während ich sehe, wie Katjas Gesicht immer röter wird, auch wenn sie krampfhaft versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr Stationsschwester Michaelas donnernde Stimme sie einschüchtert, die sich nun mit einem sanften Lächeln zu mir dreht.
„Du ziehst dich jetzt um, Liebes. Und dann sagst du Schwester Beatrice Bescheid, dass sie nach Hause gehen kann. Und für diese Papierarbeiten…“, sie nimmt mir den Aktenstapel ab und stößt ihn so doll vor Katjas Brust, dass sie einen Schritt zurückstolpert, „...findet Frau Dr. Hillbach sicherlich woanders Unterstützung…nicht wahr?“
Dass das aufgrund von Stationsschwester Michaelas Tonfall weniger als eine Frage und mehr als eine Aufforderung zu verstehen ist, begreift sogar Katja, die mir aus ihren schmal geformten Augen einen bitterbösen Blick zuwirft, aber trotzdem nickt.
„Natürlich“, sagt sie, wobei ihre Stimme gefährlich leise ist und sie mich noch ein letztes Mal wütend anfunkelt, bevor sie sich auf dem Absatz umdreht und über den Stationsflur zurückstöckelt.
Ich schlucke und kaue auf meiner Unterlippe.
Hoffentlich wird das kein Nachspiel haben…

Liebe Auf Abwegen (Mona & Romy - Band 1) (girlxgirl) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt