# 47

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- Mona -

In der Empfangshalle der Akademie herrscht bereits reges Treiben, als Romy, Jonathan und ich diese durch den meiner Meinung nach viel zu pompösen Eingang betreten.
Schüler, Eltern und andere Schuldirektoren, die ich zum Teil vom Sehen her kenne, tummeln sich in kleinen Grüppchen zwischen Instrumentekoffern umher und unterhalten sich lautstark und lachend.
Die Halle selbst sieht mit seiner breiten geschwungenen Treppe, den hohen Holztüren und den Fresken und Stuckarbeiten an der Decke nicht weniger protzig aus als die Außenwände oder der Eingang der Akademie und ich bin mir sicher, dass sich solche kunstvollen Arbeiten auch im Schloss Versailles befinden, von dem Zoe mir nach jedem Besuch bei ihrer Schwester in Frankreich vorschwärmt.
Vielleicht sollte ich sie mal hierhin mitnehmen, wenn sie wieder davon anfängt…
„Nicht schlecht…“
Während Jonathan mit gehobenen Augenbrauen seinen Blick durch die Halle gleiten lässt und sich dabei ein paar Schritte von uns entfernt, spüre ich, wie Romy sich neben mir zunehmend versteift und sie immer wieder tief Luft holt, vermutlich in der Hoffnung die Anspannung in ihrem Körper ein wenig zu lösen.
Dabei springen ihre Augen unruhig von Menschengruppe zu Menschengruppe und ihre Finger sind so fest um ihre Handtasche verkrampft, dass ihre Knöchel schon weiß anlaufen.
Ach, Romy…
Ich habe eigentlich gehofft, dass meine Worte, bevor wir die Akademie betreten haben, sie ein wenig beruhigen konnten, aber dem ist offenbar nicht so.
Sie sieht vollkommen verschreckt und unsicher aus…
Kein Wunder, bei all den Erinnerungen, die vermutlich gerade auf sie hereinprasseln…
Langsam, um sie nicht zu erschrecken, trete ich noch ein Stück näher an Romy heran und streichle ihr vorsichtig über den Arm.
„Es ist alles gut, Romy“, flüstere ich, wodurch sich ihr Kopf nach mehrfachem Blinzeln zu mir dreht, „es ist alles gut. Ich bin bei dir. Ich passe auf dich auf.“
Mein ermutigendes Lächeln lässt Romys Mundwinkel zucken, bis schließlich auch ihre Lippen von einem leichten Lächeln überzogen werden.
„Ich weiß“, flüstert sie genauso leise zurück, wobei ihr Blick mit einem Mal etwas sanfter wird, „Mona…ich…ich lie-“
„Da ist sie ja!“
Die polternde Stimme von Dr. Heydenberg lässt mich sofort herumfahren und ich sehe, wie der walrossbärtige Wackelpudding mit weit geöffneten Armen auf uns zukommt.
Oh nein, nicht so schnell, Freundchen…
„Dr. Heydenberg!“, rufe ich, so erfreut wie ich es in dem Moment zustande bringe, als ich mich demonstrativ vor Romy stelle und Dr. Heydenberg auf halber Strecke entgegenkomme, „das ist aber schön Sie zu sehen. Ich hoffe, es geht Ihnen gut?“
„Sicher, meine liebe Direktorin Berger, sicher. Mir geht es blendend“, erwidert Dr. Heydenberg mit glucksendem Lachen, „und wie geht es Ihnen? Haben Sie gut hierher gefunden?“
„Vielen Dank der Nachfrage, es geht mir hervorragend. Und ja natürlich, Ihre wunderbare Akademie ist schließlich großzügig ausgeschildert, zumal so ein prachtvolles Gebäude wirklich nicht zu übersehen ist“, sage ich und weise mit einer entsprechenden Handbewegung durch die Halle, während ich mich zu einem künstlichen Lachen zwinge.
„Ja“, Dr. Heydenberg stemmt seine kurzen Ärmchen in die stämmigen Hüften und lässt seinen Blick mit einem anerkennenden Nicken durch die Halle gleiten, „ich kann Ihre
Bewunderung durchaus verstehen, Direktorin Berger, ja durchaus. Dieses Ambiente ist natürlich nicht mit dem eines tristen Schulgebäudes zu vergleichen. Jeder, der die Akademie zum ersten Mal betritt, ist sogleich fasziniert und vollkommen in ihren Bann gezogen.“
„Ja, durchaus“, erwidere ich und zwinge mich zu einem weiteren künstlichen Lachen, um meinen Würgereiz zu unterdrücken.
Der Typ tut ja fast so, als hätte er dieses Gebäude mit seinen eigenen Händen erbaut, dabei wäre er höchstens einer dieser perückenbestückten und strumpfhosentragenden Kerle gewesen, die den Bau dieses Neuschwanstein-Abklatsches vor ein paar hundert Jahren in Auftrag gegeben haben…
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Jonathan sich uns mit schief gelegtem Kopf und Geigenkoffer unterm Arm wieder nähert und dabei Dr. Heydenberg etwas nachdenklich
mustert.
Ah, sehr gut…eine weitere Ablenkungsmöglichkeit für unseren walrossbärtigen Barockfreund…
„Dr. Heydenberg? Darf ich Ihnen unseren Wettbewerbskandidaten vorstellen?“, frage ich und gebe Jonathan mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er zu uns kommen soll, was er, nach kurzem Zögern, auch tut. „Das ist Jonathan. Und das, Jonathan, ist Dr. Heydenberg, Direktor der Musikakademie.“
„Aha“, sagt Jonathan langsam und wirft mir einen halb irritierten, halb skeptischen Blick zu, bevor er sich zu Dr. Heydenberg dreht, „freut mich Sie kennenzulernen, Dr. Heydenberg.“
„Die Freude ist ganz meinerseits, Jonathan, ganz meinerseits“, erwidert Dr. Heydenberg und streckt Jonathan seine Hand entgegen, die Jonathan, nachdem er seinen Geigenkoffer unterm Arm zurechtgerückt hat, ergreift und das Gesicht etwas verzieht, als Dr. Heydenberg seine
Hand kräftig schüttelt, „erstaunlich, wirklich erstaunlich. Ich bin fasziniert, ja wirklich, voll und ganz fasziniert.“
„Ähm…okay…“, sagt Jonathan gedehnt und lässt Dr. Heydenbergs Hand wieder los, bevor er einen Schritt zurück tritt und mit gerunzelter Stirn zu mir schaut, wobei ich allerdings genauso verwirrt dreinschaue wie er.
„Äh“, ich räuspere mich, „verzeihen Sie meine Frage, Dr. Heydenberg, aber warum genau sind Sie so fasziniert?“
„Ist das denn nicht offensichtlich?“, fragt Dr. Heydenberg und lacht erneut sein glucksendes Lachen, bevor er mit einer feierlichen Handbewegung auf Jonathan deutet, „diese Ähnlichkeit zu seiner Mutter ist mehr als beeindruckend, wirklich mehr als beeindruckend.“
Noch während er spricht, gleitet Dr. Heydenbergs Blick hinter Jonathan und sein Lächeln wird noch etwas breiter. „Es ist schön, Sie wiederzusehen, Romy.“
Oh nein…
Wie in Zeitlupe drehe ich mich zu Romy um, die immer noch ein paar Schritte hinter uns steht und ihre Handtasche nach wie vor viel zu fest umklammert, bevor sie nach einem kurzen Schulterstraffen und mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen zu uns rüberkommt und zwischen Jonathan und mir stehen bleibt.
„Guten Tag, Dr. Heydenberg. Es ist auch schön, Sie wiederzusehen“, sagt sie, wobei sie ihre vorherige Unsicherheit zu meiner Überraschung sehr gut mit ihrem höflichen Tonfall überspielen kann, fast so, als würde sie eine Rolle spielen.
Wobei…wer weiß, wie oft sie das in der Vergangenheit schon tun musste…
Mit einem geübten Lächeln schüttelt Romy Dr. Heydenbergs erneut ausgestreckte Hand, der ihr erfreut zunickt und sich anschließend leicht vor ihr verbeugt.
„Ich muss schon sagen, dass Sie sich nicht verändert haben, Romy, wirklich nicht verändert. Wenn ich so überlege, kommt es mir fast so vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass Sie zuletzt für unsere Akademie gespielt haben“, sagt er und lacht glucksend auf, während Romy ihm nach wie vor ihr einstudiertes Lächeln schenkt.
„Ich danke Ihnen für das Kompliment, Dr. Heydenberg. Aber ich muss Sie leider enttäuschen, Dr. Heydenberg, ich spiele schon seit Jahren nicht mehr. Das überlasse ich voll und ganz meinem Sohn.“
Dabei wandert ihr Kopf zu Jonathan, der ihren Blick erwidert und ich sehe, wie sich Romys gespieltes Lächeln in ein ehrliches wandelt.
„Oh, tatsächlich?“, fragt Dr. Heydenberg und hebt verblüfft seine Augenbrauen, „das überrascht mich ehrlich gesagt, Romy. Sie sind doch so talentiert und begabt.“
„Das mag schon sein“, Romys ehrliches Lächeln verschwindet wieder von ihren Lippen, als sie zurück zu Dr. Heydenberg schaut und ihre Stimme etwas leiser wird, „aber manchmal reicht das eben nicht aus.“
In diesem Moment ertönt ein lautes Knarren, welches die umherstehenden Menschen mit einem Mal verstummen lässt und sämtliche Blicke, meinen eingeschlossen, zum Ende der Empfangshalle wandern, wo eine der hohen Holztüren geöffnet wurde.
Was soll das denn jetzt?
Während ich mich noch etwas verwirrt umschaue, kommt nach kurzem Zögern Bewegung in die verschiedenen Grüppchen um uns herum, die sich allesamt nun zu der geöffneten Tür hinbewegen und nach und nach den langen Gang dahinter betreten.
„Was ist denn jetzt los?“, fragt Jonathan und schaut mit gerunzelter Stirn zu Romy und mir, woraufhin Dr. Heydenberg sich räuspert.
„Am Ende des Ganges befindet sich der Raum, in welchem die Generalprobe und auch der morgige Wettbewerb stattfinden wird“, erklärt er Jonathan mit wissender Miene und dreht sich anschließend zu mir, „wären Sie bitte so freundlich und würden Jonathan zu der Generalprobe begleiten, Direktorin Berger? Ich würde gerne noch für einen Moment mit Jonathans Mutter sprechen.“
Oh nein, das kannst du so was von vergessen, Kollege Walrossbart…
„Ach ja? Weswegen denn?“, frage ich und kann den gereizten Unterton in meiner Stimme nicht verbergen, „wenn es um Jonathans Teilnahme am Wettbewerb geht, können Sie das
auch mit mir besprechen und…“
„Natürlich, Dr. Heydenberg“, unterbricht Romy mich und gibt mir mit einem Blick und einem leichten Druck in meinem Rücken durch ihre Hand zu verstehen, dass ich mich nach Dr. Heydenbergs Wunsch richten soll, bevor sie sich zu Jonathan dreht und ihm zum Abschied einen Kuss auf die Stirn drückt. „Ich komme dann gleich nach, Jojo. In Ordnung?“
„Klar, Mama“, erwidert Jonathan und zuckt mit den Schultern, „ich werde wahrscheinlich eh eine Ewigkeit warten müssen, bis ich dran bin.“
„Ja, das ist durchaus möglich, immerhin nehmen mit dir siebenundzwanzig andere  Kandidaten an dem Wettbewerb teil. Kaum zu glauben, oder? Wirklich kaum zu glauben“, sagt Dr. Heydenberg und lacht erneut glucksend, nur um kurz darauf wieder zu Romy zu schauen, „würden Sie mir dann kurz folgen, Romy? Es dauert auch wirklich nicht lange.“
„Sicher, Dr. Heydenberg“, sagt Romy und schaut noch einmal mit einem leichten Lächeln zu mir, bevor sie Dr. Heydenberg folgt und ich den beiden mit einem mulmigen Gefühl im
Bauch nachschaue…

- Romy -

„Setzen wir uns, Romy, setzen wir uns“, sagt Dr. Heydenberg und weist mit einer Hand auf die Sitzbank, die in einer Ecke der Empfangshalle steht und auf welcher ich ironischerweise
früher immer gesessen und darauf gewartet habe, dass mein Vater mich nach meinen Musikstunden wieder abholt.
Es ist schon erstaunlich, wie viele verschüttete Erinnerungen an diesem Ort hängen…aber wenn man bedenkt, wie viel Zeit ich hier in meiner Kindheit und Jugend verbracht habe, ist es auch nicht wirklich erstaunlich.
Aber es war sehr süß von Mona, wie sie gleich versucht hat, Dr. Heydenberg von einem Gespräch mit mir abzubringen, auch wenn sie nicht wissen kann, dass dieser Einsatz von
vornherein zwecklos ist…dafür ist dieser Mann trotz seinem eher amüsanten Erscheinungsbild zu hartnäckig…
Hoffentlich dauert das Gespräch nicht allzu lange…
Ich seufze leise und nehme nach kurzem Zögern neben Dr. Heydenberg auf der Sitzbank Platz.
„Was…ähm“, ich räuspere mich, während ich gleichzeitig versuche, mir meine Unruhe und mein ungutes Gefühl nicht weiter anmerken zu lassen, „was wollten Sie denn mit mir besprechen, Dr. Heydenberg?“
„Nichts dramatisches, Romy, wirklich nichts dramatisches“, sagt er und streicht sich mit nachdenklicher Miene über seinen Walrossschnurrbart, während er mich von der Seite betrachtet, „ich würde nur gerne verstehen, warum sie mit dem Geigespielen aufgehört haben. Und vor allen Dingen, was Sie damit gemeint haben, dass Talent und Begabung manchmal nicht ausreichen…ich meine, ich habe schon damals Ihre Entscheidung nicht verstanden, sich von der Musik abzuwenden und stattdessen Medizin zu studieren…auch wenn das natürlich auch ein löbliches Studium ist, ein sehr löbliches Studium sogar…hmm, wenn ich so darüber nachdenke, haben Sie wahrscheinlich deswegen auch mit dem Spielen aufgehört, nicht wahr?“
„Nein, das Studium war nicht der Grund dafür“, erwidere ich und seufze tief, „und um ehrlich zu sein habe ich es auch relativ früh abgebrochen, als ich mit meinem Sohn schwanger geworden bin.“
„Oh? Abgebrochen?“, fragt Dr. Heydenberg und runzelt sichtlich überrascht die Stirn, „hat denn der Vater Ihres Sohnes Sie nicht unterstützt, nach der Geburt Ihr Studium wieder aufzunehmen?“
Ich spüre, wie sich ein schwerer Kloß in meinem Hals formt.
„Das…ähm“, beginne ich und räuspere mich, als mir die Stimme für einen kurzen Moment versagt, „das…ist alles etwas komplizierter…“
„Sie müssen nicht weiterreden, Romy. Ich verstehe Sie schon, ich verstehe Sie schon“, sagt Dr. Heydenberg und legt mir mit einem überraschend mitfühlenden Lächeln eine Hand auf die Schulter, während ich mir gleichzeitig zu einhundert Prozent sicher bin, dass er nicht einmal ansatzweise ahnt, was ich damit eigentlich sagen wollte…
Trotzdem erwidere ich Dr. Heydenbergs Lächeln und nicke leicht. „Nun…im Endeffekt bin ich trotzdem im medizinischen Bereich gelandet, wenn auch als Krankenschwester.“
…auch wenn ich seit einer Woche dank der falschen Behauptung einer ehemaligen Kommilitonin keinen Job mehr habe und besagte ehemalige Kommilitonin obendrein noch dafür gesorgt hat, dass sich mein Ruf als angebliche Tablettenvertauscherin mittlerweile bis zur letzten Arztpraxis in der Stadt herumgesprochen hat…aber den Teil der Geschichte muss ich Dr. Heydenberg ja nicht unbedingt unter die Nase reiben…
„Das klingt doch gut“, sagt Dr. Heydenberg und nickt mir aufmunternd zu, „zumal dies ein
ehrenhafter Beruf ist, jawohl, ein sehr ehrenhafter sogar. Und es ist doch auch schön zu sehen, dass Ihr Talent und Ihre Begabung in Ihrem Sohn weiterleben. Seit wann nimmt er denn Geigenstunden, wenn ich fragen darf?“
„Ähm…“, ein wenig überrumpelt von der Frage lege ich die Stirn in Falten, „also…das genaue Alter kann ich Ihnen leider nicht mehr sagen, aber Jojo war noch sehr jung, als er zum ersten Mal den Wunsch geäußert hat, Geigespielen zu lernen und sobald er das Instrument und den Bogen einigermaßen selbstständig halten konnte, habe ich mit ihm die ersten Übungen gemacht und später, als er dann etwas sicherer wurde, habe ich…“
„Einen Moment bitte, Romy, einen Moment“, unterbricht Dr. Heydenberg mich und fährt sich erneut mit einer Hand über seinen Schnurrbart, diesmal allerdings mit einem sichtlich interessierten Blick, „habe ich das richtig verstanden, dass Sie Ihrem Sohn das Geigespielen beigebracht haben?“
„Ähm, ja…das habe ich“, erwidere ich und nicke langsam, wenn auch etwas irritiert, „Geigenstunden sind schließlich sehr teuer und da ich das Instrument, auch wenn ich selber nicht mehr aktiv spiele, trotzdem beherrsche, habe ich Jojo das Spielen beigebracht.“
„Das ist ja interessant“, sagt Dr. Heydenberg und streicht sich weiter über seinen Schnurrbart, während er wie ein Wackeldackel vor sich hin nickt, „wirklich höchst interessant.“
Immer noch irritiert runzle ich die Stirn.
„Ähm…entschuldigen Sie, Dr. Heydenberg, aber…hätten Sie die Güte mir zu sagen, was daran so
interessant sein soll?“
Anstatt mir auf meine Frage zu antworten, betrachtet Dr. Heydenberg mich noch für ein paar schweigsame Momente und räuspert sich anschließend.
"Wenn Sie erlauben, Romy, würde ich Sie gerne etwas fragen..."

Liebe Auf Abwegen (Mona & Romy - Band 1) (girlxgirl) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt