# 12

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- Mona -

„Sie sehen aber ganz schön fertig aus, Chefin.“
„Dir auch einen guten Morgen, Tina“, erwidere ich trocken und nehme im Vorbeigehen die Tasse Kaffee vom Empfangstresen, von der ich einen großen Schluck nehme und weiter durch das Sekretariat in mein Büro stapfe.
Nach dieser fast schlaflosen Nacht bei weit geöffnetem Fenster, um diesen elenden Räuchermischungsgeruch aus meiner Wohnung loszuwerden, brauche ich bestimmt noch zehn solcher Tassen, um den Tag einigermaßen zu überstehen.
Oder ich lege mir direkt einen intravenösen Zugang, das würde zumindest schneller wirken…
Mit einem Seufzer stelle ich meine Tasse auf den Schreibtisch und lasse meine Handtasche achtlos auf den Boden fallen, bevor ich sie mit der Schuhspitze unter den Tisch kicke.
Tina ist mir unterdessen in mein Büro gefolgt und ich höre, wie sie mehrmals die Nase hochzieht und sich anschließend räuspert.
„Sagen Sie mal, Chefin…haben Sie ein neues Parfüm?“
Ich unterdrücke ein Augenrollen und lasse mich stattdessen auf meinen Bürostuhl fallen.
„Frag bitte nicht, Tina“, sage ich und stöhne genervt auf, während ich mit beiden Händen meine pochenden Schläfen massiere. „Frag. Bitte. Einfach. Nicht. Sag mir lieber, ob alles für nachher vorbereitet ist.“
„Ja, das ist es. Sowohl für die Willkommensfeier der Fünftklässler als auch am Nachmittag für die Konferenz der Musiklehrer wegen dem Wettbewerb der Musikakademie“, sagt Tina und nickt eifrig, was mich ein wenig lächeln lässt.
„Schön. Sehr schön.“
Zufrieden schlage ich die Beine übereinander und nehme einen weiteren Schluck aus meiner Tasse.
Wenigstens eine Sache, die funktioniert…
Seufzend stelle die Tasse wieder zurück auf den Tisch, wobei mein Blick jedoch erneut auf Tina fällt, die nun auf ihrer Unterlippe kaut und auf ihre vor sich gefalteten Hände schaut.
Oh nein…ich kenne dieses Verhalten…und es bedeutet mit hundert prozentiger Wahrscheinlichkeit nichts Gutes…
Ich hole tief Luft und straffe meine Schultern, während ich immer noch fest in Tinas Richtung schaue.
„Was ist los, Tina?“
„Ich…ähm“, wie ertappt schnellt Tinas Kopf und obwohl sie sich bemüht es zu kaschieren, erkenne ich die zerknirschten Züge in ihrem Gesicht „w-wie kommen Sie darauf, dass…“
„Komm schon, Tina. Du musst mir nichts vormachen“, unterbreche ich sie und richte mich etwas in meinem Stuhl auf, „ich sehe dir doch an, dass etwas nicht stimmt. Also sag ruhig, wenn etwas passiert ist. Du weißt doch, dass ich dir noch nie ernsthaft böse wegen irgendeiner Sache gewesen bin.“
„Jetzt aber vielleicht schon“, murmelt Tina und beißt sich erneut kurz und fest auf die Unterlippe, bevor sie sich räuspert, „Sie hatten mich doch gestern damit beauftragt, dass ich einen Besprechungstermin mit dem Vater von Jonathan Faber vereinbare. Und…ich habe auch für nächste Woche Dienstag um 15:00 Uhr einen Termin vereinbart…aber…na ja…also…“
Mein Magen zieht sich zusammen und ich atme langsam und tief ein, während meine Hände sich in meinem Schoß zu Fäusten ballen.
Das war doch so klar…
Wie hatte ich auch nur im Entferntesten annehmen können, dass mir ein Gespräch mit ihr erspart bleiben könnte?
Na toll…ganz ganz ganz toll…
Tina muss mir meine Anspannung angemerkt haben, denn sie zieht ihren Kopf immer mehr und mehr zwischen ihre Schultern, während sie mich schuldbewusst anschaut.
„Tut mir Leid, Chefin. Ich habe versucht, einen Termin mit dem Vater des Jungen zu vereinbaren, aber Frau Faber hat mir erzählt, dass sie und der Vater des Jungen getrennt sind und deshalb…“
„Was?!“
Während Tina über meinen Ausruf heftig zusammenzuckt und mich anschließend mit einer Mischung aus Schock und Verunsicherung ansieht, kann ich nicht anders als sie aus weit aufgerissenen Augen anzustarren.
Romy und dieser Kerl…sind getrennt?!

- Romy -

„Da ist ja mein Mädchen!”
Ich zwinge mich zu einem Lächeln, während ich mich zwischen einigen dicht gedrängten Menschen hindurchzwänge und schließlich auf Dr. Heydenberg und meinen Vater zutrete.
Meine Finger verkrampfen sich um den Griff meines Geigenkastens, als mir mein Vater mit einem stolzen Lächeln einen Arm um die Schultern legt und mich so stark zu sich zieht, dass ich eine ordentliche Welle seines Aftershaves einatme.
„Du warst wundervoll, Liebes“, sagt er und drückt mir einen viel zu festen Kuss auf die Schläfe, während ich sein Lächeln gezwungen erwidere, „einfach nur wundervoll. Nicht wahr, Wolfgang?“
„Oh, das war sie in der Tat, Christian. Das war sie in der Tat“, erwidert Dr. Heydenberg und streicht sich über seinen üppigen Walrossschnurrbart. „Ich muss schon sagen, Sie machen Ihrer lieben Mutter, Gott hab sie selig, mehr und mehr Ehre, Romy. Wirklich, mehr und mehr Ehre.“
Die Bemerkung des Direktors der Musikakademie lässt meine immer noch lächelnden Mundwinkel für einen Moment zucken, doch der Druck, den mein Vater mithilfe seines Arms auf meine Schultern ausübt, gibt mir zu Verstehen, dass ich mich zusammenreißen soll.
So wie immer…
Also lächle ich Dr. Heydenberg weiterhin an und nicke ihm mit gespieltem Dank zu.
„Sie sind zu freundlich, Dr. Heydenberg.“
„Ehre, wem Ehre gebührt, Romy. Ihre Umsetzung von Bachs Werken war einfach nur einzigartig. Aber von einer unserer besten Schülerinnen hätte ich auch nicht weniger erwartet, auch wenn Sie ja leider nicht länger unsere Akademie besuchen.“
Auch wenn ich auf diesen unterschwellige Vorwurf ebenfalls mit einem Lächeln und einem weiteren Nicken antworte, graben sich meine Fingernägel mittlerweile sehr tief in den Griff meines Geigenkastens.
Trotzdem weiß ich, dass ich darauf nichts erwidern werde.
Ich habe schließlich schon früh gelernt, in welchen Situationen ich mich besser zurückhalten sollte…
„Ja, das ist in der Tat mehr als bedauerlich“, erwidert mein Vater und wirft mir diesen einen unterkühlten Blick zu, der mich immer noch stets aufs Neue erschauern lässt.
Doch wie immer verschwindet dieser Blick genauso schnell wie er gekommen ist und mein Vater wendet sich mit einem strahlenden Lächeln zurück zu Dr. Heydenberg.
„Aber dafür steht ihr durch dieses Studium wenigstens eine vielversprechende Zukunft als Ärztin bevor“, er schaut zu mir zurück und sein unterkühlter Blick trifft mich erneut, „nicht wahr, Romy?“
Diese gefährliche Ruhe in seiner Stimme lässt mich kurz schlucken, doch zum Glück schaffe ich es mein Lächeln aufrecht zu erhalten und nicke.
„Natürlich, Papa“, sage ich und drehe meinen Kopf immer noch lächelnd von ihm zu Dr. Heydenberg, „aber ich stehe Ihnen natürlich auch weiterhin sehr gerne für weitere Feste und Veranstaltungen der Akademie, so wie zum Beispiel heute, zur Verfügung.“
Manchmal bin ich fast schon überrascht, wie spielend leicht mir mittlerweile diese Sätze über die Lippen kommen, die von mir erwartet werden…
„Tatsächlich?“ Dr. Heydenberg schaut mich für einen Augenblick mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Erstaunen an, bevor er schallend auflacht und mir etwas ungeschickt den Arm tätschelt. „Na, das ist aber schön, dass Sie uns auf diese Weise noch ein wenig erhalten bleiben. Denn bei allem Respekt für den Ärzteberuf, aber es wäre wirklich eine Schande, ein solches Talent wie das Ihrige zu verschwenden, Romy. Wirklich, eine Schande.“
„Das sage ich ihr auch immer wieder“, ich spüre, wie der Druck um meine Schultern erneut etwas stärker wird, „aber meine Tochter hat nun mal ihren eigenen Kopf.“
Ich vermeide es bewusst, meinen Vater bei dieser Bemerkung anzusehen und lächle stattdessen Dr. Heydenberg weiter an, der erneut schallend auflacht.
„Ja, so sind sie nun mal, die Kinder. Aber ich muss schon sagen, Ihre Tochter ist wirklich sehr engagiert, Christian. Wirklich sehr engagiert.“
„Natürlich ist sie das“, sagt mein Vater und nimmt seinen Arm von meinen Schultern, „geh doch schon mal zum Auto, Liebes. Ich komme gleich nach.“
„Sicher, Papa.“ Mit einem Nicken in  Richtung meines Vaters löse ich mich von seiner Seite und strecke Dr. Heydenberg meine Hand entgegen, „ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Dr. Heydenberg.“
„Danke, das wünsche ich Ihnen auch, Romy. Auf Wiedersehen“, Dr. Heydenbergs Walrossschnurrbart hebt sich ein wenig an, als er mit einem breiten Grinsen meine Hand ergreift und sie schüttelt, „und trotzdem weiterhin viel Erfolg für Ihr Studium.“
„Vielen Dank.“
Ich nicke ihm nochmal zum Abschied zu und drehe mich um, um mich erneut durch die dichtgedrängte Menschenmenge zu zwängen, dieses Mal jedoch zum Ausgang, und schicke mehrere Dankesgebete gen Himmel, dass ich diesen Abend hinter mich gebracht habe...erfolgreich hinter mich gebracht habe…
Denn wer weiß, wie mein Vater sonst wieder reagiert hätte…
Ich schlucke schwer und schiebe mich an zwei älteren Damen vorbei, die sich derartig einparfümiert haben, dass sie damit ohne Probleme jeder Parfümerie Konkurrenz machen können.
Seit ich im letzten Semester mein Medizinstudium begonnen und mich damit ausdrücklich gegen den Willen und Wunsch meines Vaters, professionelle Violinistin zu werden, entschieden habe, war sein Verhalten mir gegenüber so unterkühlt und distanziert wie seit Jahren nicht mehr.
Anfangs hat er noch versucht, mir das Studium schlecht zu reden und mich davon zu überzeugen, dass ich mein Talent nicht derartig verschwenden soll, wie er es ausdrückte.
Als das nichts half, hat er versucht, mich mit seinen üblichen Tobsuchtsanfällen und Drohungen einzuschüchtern.
Und als auch das ohne die von ihm gewünschte Wirkung blieb, hat er mich kurzerhand rausgeschmissen und mir jegliche finanzielle Unterstützung untersagt, was aber auch nicht sonderlich schlimm war, da ich sowieso schon in mein WG-Zimmer eingezogen war und den Vertrag für einen Nebenjob vorliegen hatte.
Und ich bin immer noch fest davon überzeugt, dass mein Vater mich niemals kontaktiert hätte, wenn Dr. Heydenberg ihn nicht um meine Unterstützung für die heutige Veranstaltung der Akademie gebeten hätte.
Um ehrlich zu sein weiß ich gar nicht, warum ich diesem Wunsch überhaupt nachgekommen bin.
Aus alter Gewohnheit?
Aus Sentimentalität?
Oder, um so vielleicht besser mit der Zeit abzuschließen, die ich in diesem gottverdammten Gebäude verschwendet habe?
Ich weiß es nicht.
Aber es ist mir auch egal.
Ich bin frei.
Endlich frei.
Und wenn ich eines mit Sicherheit weiß, dann ist es, dass ich nach diesem Abend diese Akademie nie mehr betreten werde, egal was ich vorhin gegenüber Dr. Heydenberg gesagt habe.
Nie nie nie mehr…
„Oh, Vorsicht!“
Meine Gedanken werden abrupt unterbrochen, als ich unsanft gegen eine Person stoße, die sich soeben aus einer der umherstehenden Gruppen gelöst und sich dadurch mir in den Weg gestellt hat.
Ich blinzle mehrmals und schaue auf, wodurch ich in ein Paar grüner Augen schaue, die zu einem jungen dunkelhaarigen Mann im Anzug gehören, der mich entschuldigend ansieht.
„Tut mir Leid, ich wollte Sie nicht erschrecken. Haben Sie sich wehgetan?“
„Ich…ähm…“, ich stocke für einen Moment, bevor ich mit dem Kopf schüttle, „nein, mir geht es gut. Und Ihnen?“
„Alles bestens.“ Das zerknirschte Lächeln des Mannes wandelt sich und nimmt freundliche und warme Züge an. „Wie könnte es mir in Gegenwart einer so hübschen Frau auch schlecht gehen? Aber das hören Sie ja sicherlich öfters, nicht wahr?“
Während ich spüre, wie Hitze in meine Wangen steigt, zwinkert mir der Mann grinsend zu und streckt mir anschließend seine Hand entgegen.
„Freut mich sehr Sie kennenzulernen. Mein Name ist David Krohnfeld, aber David reicht völlig.“

„Mama? Alles in Ordnung?“
Ich blinzle mehrmals und schüttle leicht meinen Kopf, bevor ich zur Seite und damit zu Jonathan schaue, der neben dem Küchentisch steht, an dem ich sitze, und mich mit schief gelegtem Kopf mustert.
„Ja…ähm…“, ich blinzle erneut, immer noch halb in der Erinnerung, und räuspere mich anschließend, „ja, alles in Ordnung. Wieso fragst du, Jojo?“
„Na ja“, Jonathan mustert mich immer noch prüfend und ich glaube  sogar, einige besorgte Züge darin erkennen zu können, „als ich nach dem Frühstück gegangen bin, um mich für die Schule fertig zu machen, hast du schon genauso dagesessen wie jetzt auch. Und deinen Tee hast du auch immer noch nicht getrunken.“
Auch wenn mir nicht danach ist, breitet sich ein leichtes Lächeln auf meinen Lippen aus.
„Mach dir keine Gedanken, Jojo. Wie gesagt, es ist alles in Ordnung. Ich brauche wahrscheinlich nur ein bisschen Schlaf und dann geht es mir auch mit Sicherheit ganz schnell besser. Du kannst dich ruhig auf den Weg zur Schule machen.“
Trotzdem mustert Jonathan mich immer noch nachdenklich und räuspert sich nach einer Weile.
„Hast du…hast du an ihn gedacht?“
Jonathans Frage lässt mich kurz schlucken und ich senke meinen Blick, um auf meine auf dem Tisch gefalteten Hände zu schauen, bevor ich schließlich tief Luft hole.
„Ja…unter anderem…“

Liebe Auf Abwegen (Mona & Romy - Band 1) (girlxgirl) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt