50.

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Marco und ich saßen bereits eine viertel Stunde in dem Café das Lennard vorgeschlagen hatte und warteten auf meinen Bruder und das Anhängsel. Je länger wir warteten, desto nervöser wurde ich. Mein Bein zappelte unkontrolliert auf und ab, bis Marco seine Hand beruhigend auf mein Knie legte und lächelnd seinen Kopf schüttelte, als ich ihn fragend anblickte. „Was er wohl von mir möchte?" fragte ich Marco, der immer noch mein Bein herunter drückte. Also begann ich mit dem anderen auf und ab zu zappeln. „Hör auf so nervös zu sein!" ermahnte er mich gelassen wie eh und je. „Ich bin aber aufgeregt!" beschwerte ich mich schmollend und verschränkte widerwillig meine Arme vor der Brust. Wie konnte er denn so gelassen bleiben? „Sag mal, weißt du irgendetwas?" platzte es stirnrunzelnd aus mir heraus, nachdem ich ihn akribisch observierte und er erneut dieses Grinsen auf den Lippen hatte. Marco fuhr sich nervös durch sein blondes Haar und zuckte danach mit den Achseln: „Ich weiß nicht, was er von dir möchte!" beschwichtigend hob er seine Hände. Kopfschüttelnd wandte ich meinen Blick von ihm ab. Genau in diesem Moment sah ich meinen Bruder und meinen Ex-Freund auf uns zu kommen. Lennard lächelte mich unsicher an, während Leon, der mindestens zwei Köpfe größer als mein Bruder war, wie immer hinter ihm her dackelte. Seit wann waren die beiden eigentlich so gut befreundet? Klar, sie mochten sich schon immer, aber nicht in dem Ausmaß. Nachdem Lennard mich umarmte, setzten wir uns wieder hin. Marco warf meinem Ex einen undefinierbaren Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Wo war das böse Blut zwischen ihnen? Nicht, dass ich es für gut hieß, aber es konnte doch nicht einfach so verschwunden sein? Marcos Blick war weder gehässig, noch eifersüchtig. Er war weich und total einfühlsam. Musste ich mich jetzt auf etwas schlimmes gefasst machen?
Nachdem die beiden sich auch etwas bestellten, räusperte mein Bruder sich leise: „Ich habe totalen Muskelkater in den Armen von der Maloche gestern." grinste er. Über meinem Kopf schwebte wahrscheinlich bereits ein riesiges Fragezeichen. Marco lachte leise: „Dann musst du mal endlich mehr deine Puddingarme trainieren.", „Als hättest du den größten Bizeps." lachte Leon, wie immer mit gehässigem Unterton, laut. Leon und Marco waren nicht nur charakterlich das komplette Gegenteil voneinander. Auch äußerlich war ihr Unterschied so groß wie Tag und Nacht. Leon war über zwei Meter groß, hatte braune Locken, eine gebräunte Haut, dafür blaue Augen und war ein riesiges Muskelpaket. Da war Marco mit seinen ein Meter achtzig, blonden Haaren und seiner eher dünnen, athletischen Figur ein ganz anderer Typ. Dafür war er tiefgründiger, einfühlsamer, liebevoller und bodenständiger als Leon. Marco war sich für nichts zu schade, half anderen, war für mich da, tat alles für mich, machte mir sogar Frühstück. Dafür liebte ich ihn. Für meinen Ex hatte ich nie solche tiefgründigen Gefühle, aber ich hatte auch oft den Verdacht, dass er sie auch nie richtig zulassen konnte. Warum auch immer. Ich jedenfalls war froh, dass ich Marco kennengelernt hatte und endlich wusste, was wahre Liebe bedeutete. Auch wenn ich dafür an mir arbeiten musste. „Es muss sich ja nicht jeder mit Doping seine Muskeln aufbauen." kommentierte ich nüchtern. Lennard schaute erst mich und dann Leon mit riesigen Augen an, während Marco mich unter dem Tisch trat. „Das habe ich nur zwei Mal gemacht!" verteidigte er sich aufgebracht. Lennard fuhr sich nervös durch sein hellbraunes Haar. „Weshalb sind wir jetzt eigentlich alle hier?" fragte Marco plump und richtete sich mit einem wissenden Blick Richtung Lennard. „Genau!" warf ich ebenso ein. Da war ja was. Bei der ganzen Zankerei hätte ich das Wesentliche beinahe vergessen. Ich starrte meinen kleinen Bruder an, der konzentriert auf seine zusammengefalteten Hände starrte und schluckte. Hatte es doch mit dem Überfall zutun, dass Lennard mit mir sprechen wollte? Ich hoffte nicht. Meine Nerven waren, was das anging, mittlerweile auf extrem dünnem Eis. Ich versuchte es zu verdrängen, auch wenn es nicht die beste Lösung war. Schließlich musste ich so langsam mal mit meiner Entscheidung in die Pötte kommen, damit ich die Miete meiner eigenen Wohnung endlich überweisen konnte. Schließlich wollte ich ungern auf der Straße landen. Ich rechnete jeden Tag mit einer Mahnung. „Also, an dem Tag an dem du überfallen wurdest, also davor, da war Leon ja auch schon da und-" stammelte Lennard los, „Jetzt sag nicht, dass es Leon war." versuchte ich das Thema mit einem doofen Scherz nervös ins Lächerliche zu ziehen. Schon wieder ein Tritt von Marco. „Marco, kannst du deinen Fuß mal unter Kontrolle kriegen?" zischte ich. „Oh sorry!" sagte er extra betont und starrte mich mit großen Augen an: „Das muss wohl ein Versehen gewesen sein." Ich schüttelte stirnrunzelnd meinen Kopf, bevor ich meinen Bruder wieder erwartungsvoll anblickte. „Jedenfalls hattest du dich ja schon damals gewundert und-", „Natürlich habe ich mich gewundert. Nichts für ungut, aber Leon du bist ein riesiger Idiot. Ich wusste gar nicht, dass ihr trotz allem noch befreundet seid." grätschte ich ihm schon wieder dazwischen. Marco legte neben mir verzweifelt seinen Kopf in die Hände und schüttelte ihn ungläubig. Was sollte das denn jetzt? „Oh man Yve, dein Ernst jetzt?" murmelte er. Eingeschnappt verschränkte ich meine Arme vor der Brust: „Okay, okay. Ich sage nichts mehr." brummte ich genervt.
Erst als Lennard mir in die Augen schaute, musste ich schlucken. Er schien total nervös zu sein, ganz leichte Schweißperlen bildeten sich mittlerweile auf seiner Stirn. „Bist du verletzt?" fragte ich besorgt, obwohl ich doch eigentlich nichts mehr sagen wollte. Er schüttelte irritiert den Kopf: „Nein! Aber ich würde dir gerne etwas wichtiges sagen, also halte doch bitte einfach mal die Klappe!" rutschte es plötzlich aus meinem kleinen Bruder heraus. Schockiert begann ich zu schmunzeln: „Dann bitte, ich bin jetzt ruhig.", „Jedenfalls dachte Marco, dass Leon wegen dir in Dortmund sei, dabei war Leon wegen mir hier." Ich nickte: „Ja, das weiß ich doch mittlerweile und er zum Glück auch. Mit meinem Kopf nickte ich in Marcos Richtung.", Lennard nickte: „Ja, aber ich meine nicht, dass er wegen mir hier war, sondern wegen mir!" betonte er. Ich runzelte meine Stirn erneut und schaute Marco verwirrt an, der noch immer seinen Kopf in seine Handflächen vergraben hatte. Auch Leon schaute Lennard kritisch an und verschränkte nun seine Arme vor der Brust, bevor er sich räusperte: „Lennard. Du musst es aussprechen. Sie ist deine Schwester." schubste er meinen Bruder förmlich an. Lennard nickte schon wieder und gab sich einen Ruck: „Ja, also Leon und ich - wir, ich meine er und ich - wir - wir lieben uns. Also, das heißt - ich bin schwul und Marco weiß es seitdem du im Krankenhaus lagst und er so eifersüchtig war. Ich wollte nicht, dass es eure Beziehung zerstört. Das Mädchen aus England - ich habe sie gedatet. Ich habe wirklich alles versucht, aber ich konnte mich noch nie in Frauen verlieben und war wochenlang so verwirrt, dass ich nicht einmal mehr zum Training konnte. Als Leon mir dabei geholfen hatte unsere Mutter zu finden Yve, da sind wir uns irgendwie näher gekommen und es ist dann einfach so passiert." stammelte er plötzlich drauf los.
Meine Kinnlade klappte herunter. Marco richtete seinen Kopf langsam wieder auf und beobachtete haargenau meine Reaktion. Damit hätte ich nicht gerechnet. Mir war es ganz egal, dass er Männer liebte. Er sollte lieben wen er wollte, er war mein Bruder - ich wollte lediglich, dass er glücklich ist. Was mir nicht egal war war, dass es unbedingt mein Ex-Freund sein musste mit dem ich insgesamt fünf Jahre verbrachte, aber jetzt machte so einiges Sinn und, dass Marco anscheinend die ganze Zeit davon wusste und mich so ins kalten Wasser hatte fallen lassen gefiel mir am wenigsten. Jetzt machte es Sinn, warum das böse Blut zwischen den Beiden fast verflogen war. „Sag doch bitte etwas." murmelte Lennard angestrengt. Leon räusperte sich. Sogar er war nun anscheinend nervös. „Lennard, ich fühle mich total schrecklich, weil du dich nicht getraut hast von Anfang an mit mir darüber zu sprechen. Ich bin deine Schwester, ich liebe dich so wie du bist." murmelte ich schockiert. Marcos angespannter Blick lockerte sich. Ich spürte, wie er seinen Arm auf die Lehne meines Stuhls platzierte und seine Finger beruhigend über meinen Rücken streichelten. „Du weißt nicht wie das ist im Profifußball schwul zu sein. Davon darf niemand erfahren." murmelte er leise. Marco nickte, als ich ihn fragend anblickte. Davon hatte ich keine Ahnung. Lennard hatte anscheinend trotz allem das Gefühl, mit mir nicht darüber sprechen zu können, sondern erzählte es lieber Marco. Das zerbrach mein Herz in tausende Einzelteile. Vielleicht war unser Verhältnis zueinander momentan nicht das Beste, aber trotzdem blieb doch der Grundsatz, dass Familie über allem stand. Er hatte mir bis jetzt immer alles zuerst anvertraut. Wo war dieses Vertrauen hin? Und warum musste es unbedingt Leon sein? „Musste es unbedingt der Idiot sein?" fragte ich, auf Leon zeigend: „Und warum erzählst du zuerst Marco davon und nicht mir obwohl ich mir solche Sorgen um dich gemacht habe und dir so viele Möglichkeiten gab, es mir endlich zu sagen?" machte ich meiner Enttäuschung wahrscheinlich total unangebracht Luft.

Schmetterlingseffekt IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt