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Kurz bevor ich das Café betreten wollte, das Jenny und ich uns ausgesucht hatten, klingelte mein Smartphone laut drauf los. Stirnrunzelnd drückte ich auf den grünen Hörer, als Marcos Name auf meinem Display auftauchte. „Alles fit?" fragte er gut gelaunt. Obwohl - seine Stimme zitterte ein wenig, genau so wie seine Atmung. „Bei mir schon" murmelte ich langgezogen: „Bei dir auch?" entschied ich mich dazu, mal nachzuhaken. „Ja ja" kam es nur von ihm. Danach wurde es kurzzeitig still zwischen uns. Etwas, das eigentlich nie passierte. „Du, ich muss heute am späten Nachmittag auf eine Gala kommst du mit?" fragte er plötzlich angespannt. „Gala?" rutschte es mir lautstark heraus: „Marco, ne bitte nicht!" flehte ich ihn an. „Bitte doch" bettelte er langgezogen: „Lass uns doch vor der Geburt noch einmal gemeinsam ausgehen." Ich überlegte für ein paar Sekunden, während Jenny mich angespannt beäugte. Ich warf ich ein Schulterzucken zu - wahrscheinlich hatte sie Hunger. „Du hast nicht nein gesagt!" triumphierte er plötzlich erleichtert: „Ich hole dich dann so in einer guten Stunde ab - wo seid ihr?" fragte er aufgeregt. Ich rollte meine Augen und seufzte - entschied mich aber dazu, ihm diesen gefallen zutun: „Und was soll ich anziehen? Ich habe 'ne olle Jeans an. Damit kann ich doch nicht auf eine Gala." brummte ich unzufrieden. Plötzlich mischte sich Jenny ein und griff nach meinem Smartphone: „Marco, sie hat sich eben ein wunderschönes weißes Kleid an. Wir sind gerade vor dem Restaurant am Emil-Moog-Platz und wollen noch eine Kleinigkeit essen. Komm einfach dahin! Tschö' bis denne!" sie legte einfach auf. „Warte, ich kann doch nicht das neue Kleid anziehen! Vielleicht ist es viel zu overdressed!" ich schaute sie empört an, während sie mich in Richtung Lokal schob. „Doch, das passt gut!" sie hielt die kurze Schutzhülle in der sich mein Kleid befand kurz hoch und wackelte mit den Augenbrauen: „Wie passend, dass wir noch beim Friseur und im Nagelstudio waren. Deine Haare sehen mit dem blonden Übergang und den leichten Wellen echt toll aus. Das wird schon passen, oder fühlst du dich nicht schön?" grinste sie. „Doch!" gab ich murmelnd zu als wir uns an einen Tisch setzten. Doch ich versuchte erstmal, das ganze in die hinterste Ecke meines Oberstübchens zu verdrängen, weil ich gerade lieber durch die Karte stöberte als mir Gedanken über diese doofe Gala zu machen.
Kurz nachdem unsere leeren Teller abgeholt wurden, musste ich mich wohl oder übel in mein neues  Kleid samt Schuhe quetschen. Das fiel mir gar nicht so leicht hochschwanger in einer der kleinen Kabinen der Frauentoiletten. Auf dem Weg zurück zu Jenny, die bereits draußen auf mich wartete, stand plötzlich mein Vater neben ihr in einem grauen Anzug. Erschrocken hielt ich mir die Hand an die Brust und spürte sofort mein auf Hochtouren arbeitendes Herz gegen meine Hand klopfen als ich ihm näher kam. Ich reichte Jenny die Tüte, in der meine alltags Klamotten von heute drinnen war: „Super, dass du heute diese kleine weiße Tasche mitgenommen hast. Die sieht super aus zum Kleid." grinste sie. „Danke, dass du mir auf der Toilette mit ein bisschen Make-Up geholfen hast." lächelte ich und warf meinem Vater einen Seitenblick zu: „Woher kennt ihr zwei euch?" fragte ich gerade heraus. Beide kratzten sich sofort den Hinterkopf und schauten sich hilflos an. „Er hat uns zusammen drinnen gesehen. Er hat auch hier gegessen!" stammelte Jenny plötzlich. Ich nickte: „Achso!" und lächelte meinen Vater tatsächlich etwas schüchtern an: „Ich habe versucht dich zu erreichen." flüsterte ich schon fast. Er nickte: „Ich habe es eben gesehen! Im Hotel habe ich so schlechten Empfang." gab er zu. Ich schaute nervös auf die Uhr. Wo blieb Marco denn bloß? Er wollte eigentlich schon längst hier sein. „Du Yve, ich muss jetzt los! Meine Mutter hat gerade angerufen!" gab Jenny beschämt zu. Ich nickte. „Ich passe auf sie auf!" grinste mein Vater schnell. Jenny verabschiedete sich von mir und wünschte mir während der Umarmung viel Spaß - aber wofür? Ach ja die Gala - schon ganz vergessen.
„Komm wir gehen ein paar Meter zusammen." schlug mein Vater vor. Ich nickte verhalten und setzte mich sofort in Bewegung.
„Mich zu sehen hat doch ziemlich aufgewühlt, oder?" fragte er leise. „Ja, nach dem ganzen Prozess." gab ich ebenso leise zu. „Ich habe durch die deutsche Presse in America davon erfahren." erklärte er mir: „Ich wusste, dass jetzt meine Chance ist, für dich beide Da zu sein, auch wenn ihr es nicht gewollt hättet." murmelte er nachdenklich. Ich blieb stehen und schaute ihm in die Augen: „Also bist du gar nicht abgehauen?" fragte ich verwundert. Er schüttelte seinen Kopf. Je länger ich ihn musterte, desto mehr fiel mir auf, dass Lennard ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war. „Ich habe mich in America selbstständig gemacht. Wir wollten gemeinsam als Familie auswandern und deine Mutter wollte eigentlich mit Lennard und  dir zusammen nach kommen, weil du noch drei Wochen Schule hattest damals. Anstatt sich in den Flieger zu setzen, hat sie den Kontakt zu mir vollständig abgebrochen und alle Briefe die ich geschrieben und Anrufe die ich getätigt habe kamen nicht mehr bei euch an." In mir ratterte es. Damals war ich in der ersten Klasse. Ich erinnerte mich, wie wir in den Sommerferien plötzlich vom Land in die Stadt, meine alte Heimatstadt gezogen sind. Meine Mutter hatte immer gesagt, dass unser Haus verkauft werden musste. Ich schluckte schwer, konnte mir vorerst nicht erklären, warum meine Mutter das getan hat. „Sie war immer ein Freigeist." sagte mein Vater plötzlich als hätte er meine Gedanken gelesen: „Und ich habe sie scheinbar klein gehalten ohne es zu realisieren. Das ist mir aber erst Jahre später klar geworden. Als ich dann vor wenigen Wochen über das ganze Drama im Netz gelesen habe und Lennard und dich gesehen habe - realisiert habe das ihr das seid, Lennard ein professioneller Fußballspieler geworden ist und du ein Kind von Marco Reus erwartest, da blieb mir die Luft im Halse stecken und ich habe sofort einen Flug gebucht." Ich nickte lächelnd. Über meine Mutter wollte ich keinen weiteren Gedanken verschwenden, sondern ich wollte mich einfach darüber freuen, dass mein Vater ein anständiger Mensch war, dem meine Mutter ebenso übel zugespielt hatte. Ich erfuhr, dass er eine Frau hatte und mit ihr zwei Söhne großzog, die etwas jünger als Lennard sind. Das was mich aber am meisten überraschte war, dass ich ihm nichts übel nahm. Ich spürte, dass er sein besten getan hatte und mir war bewusst, dass er Lennard und mich nicht einfach so vergessen hatte. Vor einigen Monaten wäre ich wahrscheinlich trotz allem ziemlich sauer auf ihn gewesen.
Mein Vater machte plötzlich Halt vor dem Dortmunder U, das nur wenige Minuten Fußweg vom Restaurant entfernt waren. Ich schaute hoch und kratzte mich am Kopf. Als ich meinen Vater wieder anschaute, grinste er mich stolz an und deutete hinein.
Plötzlich fiel mir aber wieder die Gala ein und das Marco eigentlich auf mich warten müsste vor dem Restaurant.
Was machte ich denn jetzt?

Schmetterlingseffekt IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt