57.

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Das extrem aggressive Piepen meines Smartphone-Weckers riss mich aus meinem Tiefschlaf. Warum läutete der denn mitten in der Nacht? Ächzend drückte ich auf den roten Hörer und legte mich zurück in die Kissen. Langsam fuhr ich mir mit meinen kalten Händen durchs Gesicht und blieb bei meiner Stirn stehen. In meinem Kopf pochte es wie verrückt. Die Wirkung der Schmerztabletten hatte wohl leider nachgelassen. Moment mal, roter Hörer? Schnell griff ich wieder nach meinem Smartphone und kniff meine Augen zusammen, als ich in das helle Licht starrte. Mein Wecker hatte gar nicht geklingelt. Es war mitten in der Nacht. Erst jetzt bemerkte ich, dass Marco mich schon fünf Mal versucht hatte, zu erreichen. Ein wenig benommen drückte ich auf seinen Kontakt. Es musste nicht einmal Tuten, er nahm direkt ab: „Yve, endlich." seufzte er erleichtert. Ich runzelte meine Stirn. Hatte ich ihm doch gesagt was passiert ist und es bloß vergessen? Das konnte doch nicht sein. „Ja, was gibt es denn?" zwang ich krächzend aus mir heraus. Wo war denn meine Stimme hin? „Ich weiß nicht, es kann sein, dass ich total übertreibe, aber ich habe so ein komisches Gefühl gehabt, weil du nach dem Spiel nicht zu mir gekommen bist. Leon hat Lennard alles erzählt was heute bei der Polizei mit deiner Mutter passiert ist. Und Lennard hat daraufhin mich angerufen, weil er dich nicht erreicht hast. Yve warum bitte, redest du denn nicht mit mir oder wenigstens mit ihm? Warum bist du nicht einfach nach Hause gekommen - äh ich meine zu mir?" Mir fiel es schwer diese ganzen Informationen auf einmal zu verarbeiten. Ich begann dutzende Male mich zu erklären, doch es kam nur Wortmüll aus meinem Mund. „Ist egal, das besprechen wir jetzt nichts hier übers Telefon. Mach mir die Tür auf, ich habe gerade vor deiner Wohnung geparkt." murmelte er enttäuscht und legte auf. Oh man, wie sollte ich mich bloß in meiner Verfassung aus dem Bett quälen? Zum Glück wussten Marco und auch Lennard wenigstens schon von dem ersten Teil meines Horrortags. Ich schleppte mich wortwörtlich zu meiner Wohnungstür und drückte auf den Knopf, der unten die Tür öffnete. Dann öffnete ich schon mal die Wohnungstür und lehnte mich erschöpft dagegen. Direkt hörte ich wie Marco mit schnellen Schritten die drei Stockwerte hoch sprintete. Kurz darauf erschien mein Bruder hinter ihm. Beide schauten mich total schockiert an. Ich winkte sie herein und schloss leise meine Wohnungstür. Jetzt war ich endgültig in Erklärungsnot. Lennard fand zuerst seine Stimme wieder, während Marco mich schockiert anstarrte: „Wie siehst du denn aus?" fragte er erschrocken. Was wollte der denn jetzt? Ich spürte, wie mein Kreislauf so langsam in sich zusammen sackte und lehnte mich vorsichtshalber an die Wand hinter mir. Vor lauter Überforderung bildeten sich nun Tränen in meinen Augen. Mein Blick wanderte zum mir gegenüberliegenden Ganzkörperspiegel der in meinem Flur hin und erschrak. Mein linkes Auge war total rot unterlaufen und ein riesiger blauer Fleck klebte darunter. Das musste von der Kopfverletzung kommen. Erschrocken wanderte mein Blick zurück zu meinem Bruder und meinem Freund. Marcos Augen waren riesig, wahrscheinlich konnte die beiden sich schon in etwa denken wer das war, aber wollten es genauso wenig wahr haben wie ich. Er kam auf mich zu, legte seine Hände auf meine Schultern und inspizierte mich schockiert von allen Seiten: „Ich weiß nicht was ich sagen soll." murmelte er beinahe sprachlos. Plötzlich runzelte er seine Stirn, bevor er meinen Kopf langsam nach unten drückte und mit seinem Finger über die Platzwunde an meinem Hinterkopf strich. Als ich ihn wieder anblickte spannte er vor Wut seinen Kiefer an und hielt mir seine blutige Handfläche unter die Nase: „Bist du von allen guten Geistern verlassen, dass du uns mit so einer Wunde am Kopf nicht Bescheid sagst? Was dachtest du denn was passieren würde? Dachtest du die wäre morgen wie von Zauberhand verschwunden? Was wäre denn passiert wenn wir nicht gekommen wären und du wärst verblutet?" warf er mir aufgebracht vor und war dabei alles andere als leise. So kannte ich ihn gar nicht. Andererseits hatte ich echt große Scheiße gebaut. „Marco beruhige dich mal! Yve ist doch ohnehin schon total aufgelöst. Sie weint doch schon genug!" versuchte mein Bruder meinen aufgebrachten Freund zu beruhigen. Ich wischte mir mit meinem Unterarm die Tränen aus dem Gesicht und starrte Marco entschuldigend an. Er schüttelte seufzend seinen Kopf. Mittlerweile musste ich mich richtig an ihm festkrallen, damit ich stehen blieb. „Wie ist das überhaupt passiert?" fragte Lennard besorgt, der meinen Zustand bemerkte und mich von Marco löste und mich ins Wohnzimmer führte. Dort lies ich mich direkt auf das Sofa fallen und versuchte mich zu beruhigen. „Es tut mir leid, dass ich euch nicht sofort angerufen habe, ich- i-" begann ich zu stammeln. „Du hast es doch nicht gemacht, wegen meines Geburtstags morgen?" fragte Marco plötzlich entsetzt und ging vor mir in die Hocke um prüfend in meine Augen zu schauen. Ich konnte nur nicken, mir fiel es schwer einen geraden Satz zu bilden. Marcos Blick wurde endlich etwas weicher. Vorsichtig legte er seine Arme um mich und drückte mir einen liebevollen Kuss auf die Lippen, bevor er mit seinem Finger über den blauen Fleck unter meinem Auge strich: „Was bringt mir dieser dämliche Geburtstag, wenn du hier in deinem eigenen Bett verblutest?" fragte er etwas überdramatisch. Ich zuckte mit den Achseln: „Ich habe keine Ahnung was ich mir gedacht habe. In mir war so viel Adrenalin, ich habe das ganze viel zu sehr heruntergespielt. Es tut mir wirklich leid. Danke, dass ihr da seid." murmelte ich leise. Kaum auszudenken, hätte Marco nicht dieses schlechte Gefühl gehabt und Leon hätte nicht Lennard alles erzählt. Nun schüttelte Lennard seinen Kopf: „Du bist total verrückt Yve! Und schlauer warst du auch mal." beschwerte er sich fassungslos. „Es war dieser Idiot. Er hat mich bedroht und wollte mich glaube ich mitnehmen, bis ich behauptet habe, dass ich nichts mehr mit euch am Hut habe. Dann ist er abgehauen." erklärte ich die Kurzfassung. Marco und Lennard verstanden die Welt nicht mehr: „Du hättest sofort bei der Polizei anrufen müssen, damit sie ihn hier in der Umgebung vielleicht festnehmen können. Jetzt ist der doch bis ins Himalaya verschwunden." ärgerte sich Lennard.
Die beiden hatten recht. Ich hatte alles falsch gemacht, was ich hätte falsch machen können. Jetzt hatte ich ihn wahrscheinlich noch gedeckt und wo ich wohne wusste er nun auch. Ich war wirklich unglaublich dumm. Mir wurde erst jetzt der Umfang meiner Handlungen wirklich bewusst. Wieder schaute ich zu den beiden hoch. Lennard wandte sich an Marco: „Ich rufe jetzt bei der Polizei an und danach fahren wir sie ins Krankenhaus." Marco nickte zustimmend: „Yve, ich dachte wirklich, dass du jetzt verstanden hättest, dass Verdrängung die Probleme die man hat nur schlimmer machen." seufzte er ehrlich und richtete sich dann aus der Hocke auf, um mir hoch zu helfen.
Ich war echt die größte Versagerin.

Schmetterlingseffekt IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt