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Als ich das Haus betrat, traf mich regelrecht der Schlag. Überall wimmelten Einsatzkräfte herum, es war laut und wirr.
„Entschuldigung, sie dürfen hier nicht einfach so herein!" versuchte mich ein Sanitäter mit strengem Ton aufzuhalten. Gekonnt schlängelte ich mich wortlos an ihm vorbei und ging durch den Flur in Richtung Wohnzimmer: „Sie ist die Schwester!", warf Marco erklärend, mit einem schlechten Gewissen hinterher und hob seine Hände, als er mir schnell folgte.
Dann sprang die Tür zum Wohnzimmer hin auf und zwei Polizisten kamen uns entgegen. Zwischen ihnen befand sich der mit Handschellen gefesselte Idiot meiner Mutter. Mir blieb die Luft im Hals stecken. Ich blickte zu Marco, der ihn noch zwar nie gesehen hatte, aber sofort wusste wer der Mann vor ihm war. Er spannte voller Wut seinen Kiefer an und wollte gerade auf ihn los gehen, da bemerkte einer der Polizisten sein Vorhaben und drückte seine Hand gegen Marcos Brustkorb, um ihn von seinem Vorhaben abzuhalten: „Herr Reus, machen sie es nicht schlimmer als es ohnehin ist! Es bringt ihnen nichts hinterher ebenfalls eine Anzeige wegen Körperverletzung am Hals zu haben!" der Polizist schaute meinen Blondschopf verwarnend an. Ich zog Marco an seiner Hand zu mir herüber. Nicht, dass seine Karriere sonst auch noch in Gefahr geriet: „Der Kerl ist es nicht wert." hauchte ich ängstlich. Die Erleichterung die für wenige Sekunden in mir aufkam, war riesig. Endlich wurde dieser ekelhafte Mann festgenommen. „Man dieser Dreckskerl. Ich würde den am liebsten eine Klippe herunter schubsen." brummte Marco wütend. Ich suchte Blickkontakt: „Es ist endlich vorbei. Sie haben ihn festgenommen." redete ich auf ihn ein und drückte fest seine Hand.
Aber zu welchem Preis? Schnell kam in mir die Frage auf, was der Kerl hier überhaupt gemacht hat.
Im Wohnzimmer selbst herrschte dann ein riesiger Trubel, auf dem Boden befand sich eine Menge Blut, das gerade von Einsatzkräften aufgewischt wurde und Lennard lag mit einer riesigen Kopfverletzung, nicht ansprechbar, auf der portablen Liege der Rettungsassistenten die ihn versorgten. Selbst durch seinen provisorischen Kopfverband schimmerte es schon rot. „Herr Lehmann wir müssen jetzt sofort mit dem Patienten ins Krankenhaus fahren." sagte einer der Sanitäter zu Leon. Doch letzterer wollte partout nicht die Hand meines Bruders loslassen. Tränen überströmten seine roten Wangen - ich war so schockiert, dass ich gar nicht wusste wo ich anfangen sollte. Zum Glück hatte sich Marco wieder gefangen. Er gab sich einen Ruck, ging herüber zu Leon und zog in an seinen Schultern sanft von meinem Bruder weg: „Komm schon, damit ist ihm auch nicht geholfen. Im Krankenhaus können sie sich besser um Lennard kümmern." erklärte Marco leise. Die Sanitäter nickten ihm dankbar zu, bevor sie sich an mich wandten: „Er kommt ins Klinikum hier in Dortmund." ich konnte bloß nicken. Einerseits war ich froh, dass Lennard sich selbst nichts angetan hatte, andererseits war ich unfassbar sauer, dass es wieder so weit kommen musste. Es fühlte sich so surreal an, was hier gerade vor meinen eigenen Augen geschah.
Eine unfassbar unangenehme Stille entstand schnell zwischen uns als so langsam die Einsatzkräfte das Haus verließen. Keiner von uns schien diese Stille durchbrechen zu können - bis plötzlich ein lautes Schluchzen ertönte. Marcos Blick wanderte sofort zu mir, doch ich war es nicht, die Schluchzte. Selbst total irritiert, wanderte mein Blick durch den Raum. Er blieb am Küchentresen stehen, an dem meine Mutter kauerte und in ihre Handflächen heulte. Sofort schaltete Leons Trauer in Wut um. Er stampfte auf sie zu und zog an ihren Handgelenken, damit sie ihm gezwungen in die Augen schaute: „Warum traust du dich überhaupt noch hier her? Durch dich ist dein komischer Macker doch erst auf Lennard aufmerksam geworden. Hast du ihn Mitgebracht oder ist er dir gefolgt?" brüllte er sie an. Ich schluckte laut. Ich wollte ihn von meiner Mutter wegreißen, sie sah doch schon aus wie ein Häufchen Elend, er musste sie nicht noch mehr in Angst versetzen. Doch ich konnte mich keinen einzigen Schritt von meinem Fleck fortbewegen - ich war wie gelähmt. Marco stürmte zu Leon und zog ihn von meiner Mutter weg: „Hör auf! Siehst du nicht, dass sie total am Ende ist?" brüllte er meinen Ex an. Wow, so laut hatte ich ihn noch nie erlebt. Er zog Leon auf einen der Esstischstühle, bevor er auf mich zu kam und nach meinen Händen griff: „Yve, sag doch auch mal etwas!" bat er mich verzweifelt. Ich rang mit dem Worten, stammelte herum und nichts vernünftiges kam aus mir heraus. Meine Mutter blickte mich schockiert an, Leon brüllte irgendetwas wuterfülltes in seine Hände und Marco versuchte, dass ich ihm in die Augen sah. „Was machst du hier?" presste ich denn endlich krächzend aus mir heraus. „Ich habe das Bild im Netz gesehen und wollte Lennard doch einfach nur beistehen. Ich wusste nicht, dass er und Leon tatsächlich ein Paar sind." schluchzte meine Mutter drauf los. „Hinter ihr her kam aber ganz schnell dieser Spinner und Lennard war so wütend wegen allem was der Kerl dir angetan hat und hat ihn zur Rede gestellt. Es ist alles eskaliert und ging so schnell. Dann hat der Kerl auf Lennard eingeschlagen und er ist mit seiner Schläfe an den Küchenpfeiler geknallt und-" ließ Leon alles Revue passieren, bis er stoppte und mit den Tränen rang.
Am liebsten hätte ich meine Mutter auch angeschrien - in der Stimmung dazu wäre ich ohnehin sowas von gewesen, aber ich tat es nicht. Für mich war sie keine Person mehr in meinem Leben, die es wert gewesen wäre die Energie aufzuwenden um sie anzuschreien. Ich wollte nur zu Lennard und ihm beistehen, schließlich wusste ich gar nicht, wie es ihm ging. Ich gab mir selbst die schuld, dass ich es so weit kommen ließ, dass er in die ganze Sache mit hineingezogen wurde. Marco warf zusammen mit Leon, der sich anscheinend wieder zusammengerissen hatte, meine Mutter regelrecht aus dem Haus meines Bruders. Es mag einem vielleicht zu harsch vorkommen, aber es war richtig so. Ich wollte sie jetzt erst recht nicht mehr sehen, nie wieder.
„Danke" murmelte ich also völlig am Ende, als sie wieder das Wohnzimmer betraten. Marco legte fürsorglich seinen Arm um meine Schultern und drückte mich gegen seine Seite: „Komm, wir drei fahren zu Lennard ins Klinikum." schlug er aufmunternd vor. Ich schaute zu Leon, der geknickt nickte und zwang mich zu einem Lächeln, bevor ich Marco ebenso zunickte. Ich wollte nicht wissen, was uns dort erwarten würde. Am Liebsten hätte ich mich jetzt vollgefuttert mit ungesunden Sachen, um den Stress zu kompensieren. Das einzige, das mir nun abgesehen davon wenigstens etwas Trost schenkte war, dass es nun vorbei sein musste mit dem Horror der letzten Monate.
Es konnte immerhin nicht schlimmer werden. Im Umkehrschluss konnte es also nur noch besser werden, oder?

Schmetterlingseffekt IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt