97.

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„Ich habe ihm gesagt, dass meine Tochter selbstständig ist. Und aus den Zeiten als ich de Buchführung übernommen hatte wusste ich, dass Yve sich nicht regelmäßig genug darum kümmerte das eingenommene Geld zur Bank zu bringen. Ich wollte ihr nicht schaden, aber die Schulden, wir konnten die ganzen Kosten nicht mehr tragen." murmelte meine Mutter leise: „Das Geld von meinem Sohn war nie genug, obwohl er davon so viel hat. Wir mussten es also woanders her bekommen und das war die einfachste Möglichkeit. Lange gereicht hat es aber nicht, deshalb ist er zu Lennard und hat seinen Kopf nach einem wilden Wortwechsel gegen den tragenden Pfeiler im Wohnzimmer gestoßen."
Meine Augen fixierten sie schockiert. Ich konnte kaum glauben, was sie da gerade gesagt hatte. Mir wurde ganz schlecht. Auch Lennard war Kreidebleich im Gesicht. „Und, dass ihre Tochter zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger und ihr Sohn nun eventuell bleibende Schäden wegen des Schädelhirn-Traumas davon trägt, das haben sie außer acht gelassen.", „Ach das - daran habe ich gar nicht gedacht. Es ging nur ums Geld." Die Richterin verkniff es sich, ihren Kopf zu schütteln. Leise Unruhe der Anwesenden zog daraufhin durch den Raum. Lennard stieß mich plötzlich mit dem Ellenbogen: „Atme wieder!" zischte er leise. Ein leises Zischen entwich somit endlich meinem Mund und die Luft die ich vor Schock anhielt konnte endlich verfliegen. „Du hohle Kuh! Jetzt hast du ja gestanden!" brüllte der Angeklagte Widerling sauer und machte eine abwertende Handbewegung.
Nachdem sich das Gericht kurz darauf zur Beratung zurück zog hieß es wieder einmal warten. Ich ließ mich draußen vor dem Gebäude auf einer Bank nieder und verzog schmerzverzerrt mein Gesicht. Das Treten wurde immer stärker - an der falschen Stelle tat das echt weh. Marco warf mir sofort einen beängstigten Blick zu: „Willst du etwas trinken?" fragte er fürsorglich. Ich schüttelte umgehend meinen Kopf: „Nein, eine normale Familie hätte ich aber gerne." ich verdrehte geschafft die Augen. Marco ließ sich neben mir fallen und zog mich mit seinem um meine Schultern gelegtem Arm eng an sich heran. „Versprich mir, dass unsere kleine Familie nicht so enden wird." ich schaute ihn mit riesigen Augen an. Er schüttelte schockiert seinen Kopf: „Das verspreche ich dir. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer." Ganz sanft berührten seine Lippen meine. Erleichtert atmete ich auf und begann, die Umgebung zu observieren. „Weißt du, was ich mir eben gedacht habe?" begann er vorsichtig, als er meinem Blick folgte. Ich schüttelte unwissend meinen Kopf und warf ihm einen fragenden Blick zu, bevor ich meinen Kopf auf seiner Schulter ablegte: „Vielleicht sollten Lennard und du euren Vater wirklich treffen. Schließlich hat er es euch eben angeboten. Je mehr über eure Mutter heraus kommt, desto eher glaube ich, dass an ihrer Story, er sei aus einer Laune heraus bei Nacht und Nebel abgehauen, etwas falsch. Er kam ganz vernünftig herüber." er räusperte sich unsicher. Ich schaute schnurstracks wieder zu ihm hoch und richtete mich auf: „Jetzt wo du es sagst" gab ich zu und fummelte sofort die Visitenkarte wieder aus meiner Hose: „Was ist das denn für eine Adresse?" ich runzelte meine Stirn: „Er lebt in den USA!" stellte ich unerwarteter Weise fest. Marco riss mir die Karte aus der Hand: „Echt?" er inspizierte sie genau: „Stimmt, du hast recht. Kalifornien. Komisch. Ich ahne da etwas." murmelte er leise, bevor
er mir die Visitenkarte zurück in die Hand drückte. Ich ließ sie wieder in meiner Hosentasche verschwinden. Was meinte er wohl damit? Diesen Gedanken schob ich sofort beiseite und ließ stattdessen einen riesigen Seufzer über meine Lippen gleiten. „Gleich nach dem Urteil ist das Kapitel endlich abgeschlossen und wir können uns auf unsere Tochter konzentrieren." strahlte Marco. Ich nickte: „Ohja!" erwiderte ich voller Vorfreude. Sie kam in den letzten Wochen viel zu kurz. In ihrem Zimmer stand lediglich eine Kommode. Das Bettchen war noch verpackt und die ersten paar Teile ihrer Klamotten hatte ich noch nicht einmal gewaschen - ab morgen war ich einfach nur noch im Laden und den Rest der Zeit schwanger und Marco konnte wieder das Training vernünftig wahrnehmen.
Trotzdem war mir natürlich mulmig zumute, als alle wieder zusammengetrommelt wurden. So lange ging die Beratung doch nicht,. Unser Anwalt war sich zum ersten mal unsicher - ob das so ein gutes Zeichen war?  Ich wusste es nicht - konnte es nur hoffen. Für mich war zu diesem Zeitpunkt meine Mutter nur noch irgendeine eine Frau und das obwohl ich vor ein paar Wochen noch und immer wieder über den Prozess hinweg dachte, das alles könnte noch irgendwie gut ausgehen. Ich hatte wirklich gedacht, dass man die Sache vielleicht noch gerade biegen konnte, hatte mir eingeredet meine Mutter wüsste wirklich von nichts, aber eben diese kalten Worte aus ihrem Mund zu hören warf mich total aus der Bahn. Ich konnte kaum glauben das gegenüber von mir die Frau saß, mit der ich vor wenigen Jahren zusammen für Lennard mein eigenes Leben in unserer alten Heimat aufgegeben hatte. Alles hatte sich verändert, ich hatte meine Festanstellung aufgegeben, meine Freunde, mich von Leon - der damals mein Freund und nicht Lennards war - getrennt und mich ins Ungewisse gestürzt. Klar, ich hatte nur dadurch Marco kennengelernt, aber das hätte ich bestimmt auch anders getan. Denn wenn ich eins gelernt hatte in den letzten Tagen, Wochen, Monaten - nein, Jahren - dann, dass Marco und ich füreinander bestimmt waren und wir viel zu lange Blind waren wegen unserer verschiedenen Umstände.
Früher wollte ich nie das ungewisse Terrain betreten, denn das war mit so vielem neuem Verbunden, dass ich immer Angst bekam ich würde scheitern. Doch heute weiß ich, nur wer wagt, der gewinnt.
Auch geheiratet hätte ich damals niemals oder gar eine Familie gegründet - so etwas bräuchte man nicht um glücklich zu sein, dachte ich. Heute wollte ich nochmal ein eigens Leben starten, ein neues Kapitel öffnen und Glücklich sein. Wenn meine Mutter davon kein Teil mehr war, dann war das eben so. Ich brauchte sie nicht.
Wahrscheinlich wäre ich auch in meinem früheren Leben glücklich geworden - aber weiterentwickelt hätte ich mich nicht. Jeder Tag wäre gleich langweilig geworden, aber das Leben läuft nicht immer so wie man es sich vorstellt. Manchmal verliert man die Kontrolle. Man weiß was richtig ist und macht es trotzdem falsch. Man weiß wen man liebt und tust ihm trotzdem weh. Man weiß, dass man vom Weg abgekommen ist und trotzdem läuft man weiter.
Manchmal sind die Menschen die uns retten die, von denen wir es am wenigsten erwarten. Man merkt es zuerst nicht, aber wenn sie in dein Leben treten, dann wird alles anders - und nichts ist mehr so wie es einmal war.

„Die Angeklagte frau Kühnert wird unter anderem wegen Mitwisserschaft zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wird. Der Hauptangeklagte wird wegen versuchten Totschlags im besonders schweren Fall und schwerer Körperverletzung mit Vorsatz zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt."

Schmetterlingseffekt IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt