Matthew

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09. April, Bridlington
Ich wirble herum und blicke in das Gesicht der Person, der ich versucht habe nicht zu begegnen. Zumindest noch nicht.
Graue Augen mustern mich verwirrt an. ,,Ich wusste nicht, dass du wieder hier bist."

,,...Matthew."

Mein Blick wandert über sein Gesicht - Registriert die feinen Lachfalten um seine Augen, die vor zwei Jahren noch nicht da gewesen sind, während ich versuche den Mut aufzubringen, etwas zu sagen.

Aber mir fallen keine passenden Worte ein.
Es ist einer der seltenen Augenblicke in meinem Leben, in denen mir kein Ton über die Lippen kommen will.

Matthew fährt sich durch die dunkelblonden Haare.
Er hat ein sonnengebräuntes Gesicht und graue Augen, die dem Meer an ruhigen Tagen ähneln.

Es ist seltsam. Er war einmal der wichtigste Mensch in meinem Leben und jetzt weiß ich kaum, was ich zu ihm sagen soll. Wie kann man sich so nahe stehen und dann wieder zu Fremden werden?

,,Ich bin nur für ein paar Tage hier", erkläre ich schließlich.

,,Deinem erschrockenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wolltest du mir wohl keinen Besuch abstatten?", fragt Matthew mit hochgezogenen Augenbrauen, aber seine Worte sind nicht unfreundlich.

So war er schon immer. Warmherzig zu den Menschen, die es eigentlich nicht verdient haben. Und ja - ich gehöre zu diesen Menschen.

,,Ich hatte nicht gedacht, dass du mich sehen willst", sage ich ehrlich.

,,Du bist nie zurück gekommen. Hast nie angerufen."

,,Ich weiß."

,,Ich hätte eine Erklärung verdient", sagt er und dieses Mal kann er die Verbitterung nicht aus seiner Stimme verbannen.

,,Ich weiß", wiederhole ich leise.

,,Wo lebst du jetzt?"

,,London", sage ich kleinlaut. ,,Hör zu, es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich sagen soll..."

,,Für eine Linguistin bist du erstaunlich schlecht mit Worten", sagt Matthew grimmig und sieht aufs Meer hinaus.

Ich folge seinem Blick. Die Wellen sind langsamer geworden, niedriger, aber dafür hat es begonnen zu regnen.

Matthew wendet den Kopf und seine grauen Augen treffen meine.
Seine Gesichtszüge sind wieder weicher und mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. 

,,Ich habe dich vermisst", sagt er und es wäre leichter, wenn er wütend wäre.

Kalt treffen mich ein paar Regentropfen im Gesicht und ich senke den Kopf.

,,Ich wünschte- ich wünschte, ich wäre nicht-"

,,-nicht abgehauen?", fragt Matthew und vergräbt die Hände in den Jackentaschen. ,,Aber das wäre gelogen, oder?"

Ich schlucke. Aber die Worte wollen schon wieder nicht kommen. Ja. Es wäre gelogen, ich wollte damals nicht bleiben. Aber es ist komplizierter als das.

,,Matt!", unterbricht uns eine hohe Stimme.

Sie klingt vertraut, aber ich kann sie nicht direkt einordnen.

Eine schlanke Frau mit glatten, roten Haaren läuft auf uns zu. Die Kapuze ihres Regenmantels ist tief in ihr Gesicht gezogen, aber als der Wind sie kurz zurück weht, erkenne ich sie.

Unfreiwillig verziehe ich das Gesicht. Als wäre meine Mutter für einen Tag nicht genug gewesen.

,,Ich dachte wir treffen uns am Auto, Schatz", sagt Abigail Reid, die einer der Gründe war, warum ich mich früher gerne in Meadow's Books versteckt habe.

days at bakerstreetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt