VII

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Innerhalb eines Monats hatte sich sein Notizblock gefüllt. Leider hatte sich Urarakas Stimme nicht aufzeichnen lassen, was ihm genauso unerklärlich blieb wie das Gekritzel in seinem Heft. Sie hatten gemeinsam einige Experimente durchgeführt und dokumentiert. Sie testeten, was Uraraka hat aufheben können und was nicht, durch was sie durchlaufen konnte oder berühren, ob sie ihren Körper noch spürte. Täglich fielen ihr neue Arten und Weisen ein, ihre Existenzgrenzen zu erproben. Da Bakugou die meiste Zeit über mit den Aufgaben seiner Kurse beschäftigt war, überließ er ihr das kreative Denken und half ihr einfach bei ihren Unternehmungen und schrieb die Ergebnisse auf. Immer wieder fragte er sich, was wohl passieren würde, würde jemand seinen Block entdecken. Ihn zur Rede stellen und letztlich in die Klappse stecken vermutlich.
Wenigstens seine Brille sah recht unscheinbar, wenn auch außergewöhnlich aus. Solang Kaminari nicht den Ursprung der Gläser herausposaunte würden sie niemanden auf die Idee bringen, er könnte mit einem Geist zu tun haben. Als weitere Vorsichtsmaßnahme hatte er beschlossen, nur noch Kontakt zu Uraraka aufzunehmen, wenn seine Mitbewohner außer Haus waren. Tatsächlich hatte er nämlich keine Lust erklären zu müssen, mit wem er sich gerade unterhielt, sollte man seine Stimme hören.

"Wie alt bist du eigentlich?", fragte er sie. Kirishima und die anderen waren gerade unterwegs auf einer Party.
"21. Zumindest wird das wohl so sein, der letzte, an den ich mich erinnere, war mein Achtzehnter. Meine Mutter hatte mir Mochi gemacht und in kleine süße Tüten gepackt, sie hat sie mir geschickt, weil wir uns nicht sehen konnten. Zum Mittagessen gab's dann..."
Da hatte Bakugou auch schon abgeschaltet. Uraraka hatte die Tendenz, von der eigentlichen Frage abzuschweifen und in Erinnerungen zu schwelgen. Generell redete sie eine Menge. Möglicherweise, um die verlorene Zeit wiedergutzumachen, in der sie mit niemandem hat reden können. Schließlich waren es drei ganze Jahre voller Einsamkeit gewesen.
Meistens ließ er sie einfach reden. Man sah es ihm vielleicht nicht an, doch er gab bei solchen Dingen schnell nach.
Nur manchmal ertrug er ihre Redeanfälle nicht, zum Beispiel wenn er noch viel für sein Studium zu tun hatte - denn ja, er musste sich auch noch um seine eigenen Angelegenheiten kümmern - und vermied es dann, großartig ein Gespräch anzufangen. Ihm blieb ihr Blick, gepaart aus Trauer und Verlegenheit, nie erspart, doch manchmal hatte er einfach keine Zeit für sie.

Trotz all der Experimente und Gespräche waren sie nie dazu gekommen, über die Ursache ihres Todes zu sprechen.
"Das letzte, an das ich mich erinnere, ist eine Party. Es war eine Party in einer WG. Ich war noch nie dort gewesen, aber meine Freunde, Tenya und Tsuyu, kannten den Gastgeber. Wir hatten Spaß und haben getrunken. Danach... Nichts. Danach ist nichts mehr."
Das war alles, was sie ihm hatte sagen können.
"Wer sind Tenya und Tsuyu?"
"Iida Tenya und Asui Tsuyu. Sie sind meine besten Freunde."
Schweigen breitete sich aus. Vermutlich dachten sie beide das gleiche, nämlich die zwei zu kontaktieren und nach ihrer Seite der Geschichte zu fragen. Womöglich würden sie so Urarakas Erinnerungen wachrütteln oder wenigstens weitere Anhaltspunkte finden.
Doch dann müsste Bakugou sich erklären und das kam nicht infrage.
Unsere Ochako ist viel stärker, als sie aussieht. Sie wird nach Hause kommen.
All ihre Hoffnungen, die sie sich mühsam zusammengekratzt hatten, würden mit seinem Auftauchen in tausend Teile zersplittern. Deshalb sagte er sich selbst: Irgendwann. Irgendwann würde er zu ihnen gehen und ihnen sagen, dass Uraraka noch als Geist existierte.
Dass sie aufhören könnten, zu hoffen und warten.

"Wieso feiert ihr Idioten eigentlich schon wieder? Habt ihr nicht schon letzte Woche ne Party gegeben? Und gestern wart ihr doch auch weg", kommentierte Bakugou die Vorbereitungen seiner Mitbewohner.
"Ja, aber Nejire kommt heute wieder", gab Kaminari nuschelnd zurück. Er hatte sich sein Haargummi zwischen die Zähne geklemmt, um sich währenddessen die Haare mit den Händen zurück zu halten.
"Du bist manchmal so eine Spaßbremse. Studenten sind doch hier fürs lernen, feiern und ficken, oder nicht?", summte Mina. Sie platzierte die Pappbecher und diverse Getränke auf den Wohnzimmertisch. Kirishima lächelte verlegen bei ihrer vulgären Wortwahl und Sero schlich sich von hinten an sie ran, schlang die Arme um ihre Hüfte und sagte: "Also ich bin nur für letzteres hier."
Mina brach in aufgeregtes Kichern aus, die anderen drei rümpften angewidert die Nase. Manchmal - ach was heißt manchmal, so gut wie immer - fragte sich Bakugou, warum zur Hölle er sie nochmal seine Freunde nannte.

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