XI

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Die nächsten paar Tage testeten er und Uraraka ihren Bewegungsradius aus. Dafür stellte er sich extra früh einen Wecker - 5 Uhr morgens -, damit ihn auch ja niemand dabei erwischte, wie er mit der Brille durch den Hausflur schlich. Beim ersten Versuch stellte sich heraus, dass sie ihn schlichtweg überallhin begleitete und auch durch alle möglichen physischen Hindernisse, wie zum Beispiel Türen, hindurchschwebte. Beim zweiten Versuch ging er es extremer an und fuhr sogar eine halbe Stunde mit dem Zug, um sie los zu werden, doch sie verließ nie seine Seite. Sie erklärten also erstmal, dass es theoretisch keine Einschränkungen darin gab, wie weit sie ihm folgen konnte.
Als er sich jedoch das dritte Mal aus dem Haus schmuggelte konnte er sie nirgends mehr erkennen. Stirnrunzelnd riss er sich die Brille von der Nase, stapfte wieder die Stufen zu seiner WG hoch und begab sich in sein Zimmer, nur um sie friedlich lesend vorzufinden.
"Hey, was soll der Scheiß?", brüllte er eher leise, um niemanden zu wecken.
"Was meinst du?", fragte sie, was ihn natürlich nur noch mehr irritierte.
"Na, du solltest mit mir mitkommen, schon vergessen?"
Tatsächlich schien sie es vergessen zu haben, denn sie schüttelte nur verwundert den Kopf und fragte, wann sie das abgemacht hätten.
"Wa- Okay, dann komm einfach jetzt mit, ja?"
"Okay", rief sie lächelnd und rappelte sich von dem Bett auf. Immernoch irritiert aber entschlossen, ihre Vergesslichkeit vorerst zu ignorieren, verließ er wieder das Zimmer und bewegte sich aus der Wohnungstür heraus. Diese schloss er natürlich so leise wie möglich hinter sich, damit bloß niemand aus der WG aufwachte. Die drei hatten zwar alle einen sehr tiefen Schlaf, der sich normalerweise erst durch fünf Wecker unterbrechen ließ, doch man konnte nie wissen, wann Ashido da war. Und die hatte wiederum einen erstaunlich leichten Schlaf. Abgesehen davon wenn sie Alkohol getrunken hatte natürlich.
Im Hausflur angekommen drehte er sich nach Uraraka um. Die stand diesmal brav hinter ihm und schaute ihn erwartungsvoll an.
Er wartete nicht auf eine Rückmeldung, schließlich konnte sie ohne Radio nicht mit ihm reden. Ein paar Schritte und eine Ecke weiter sah er sich wieder um und bekam gerade noch mit, wie sie sich mit dem Rücken zu ihm gewandt wieder Richtung WG aufmachte.
"Hey!", rief Bakugou diesmal wirklich und lief ihr hinterher. Als er nun vor ihr stand, blieb sie stehen und begrüßte ihn lächelnd und sagte etwas, was er eben nicht hören konnte.
Stirnrunzelnd starrte er sie an. Beobachtete sie genau, während ihr Gesichtsausdruck von Freude zu Verwirrung wechselte.
Sie wirkte nicht so, als würde sie mit ihm scherzen.
"Lass uns nochmal versuchen, ob du mit mir rausgehen kannst."
"Okay!", formte ihr Mund und verkündete somit zum dritten Mal an diesem Morgen ihre Bereitschaft, es nochmal zu versuchen. Die Brünette zeigte keinerlei Anzeichen, sich an die ersten beiden Male zu erinnern.
Zögerlich und langsam lief er ein paar Schritte mit ihr, ohne sie aus den Augen zu lassen. Dann, plötzlich, wurde ihr Ausdruck seltsam, fast schon starr und tot, und ruckartig wandte sie sich von ihm ab und ging wieder Richtung WG. Diesmal hatte er damit jedoch halb gerechnet und folgte ihr, ohne nach ihr zu rufen.
Sie schwebte durch die Tür hindurch, er öffnete sie leise und beobachtete, wie sie auf der roten Eingangsmatte stehen blieb. Einige Sekunden vergingen, dann lief sie in sein Zimmer, ihn im Schlepptau. Dort ließ sie sich auf dem Bett nieder. Das Radio rauschte leise Musik vor sich hin.
Er setzte sich zu ihr und wurde sofort von einem strahlendem Lächeln begrüßt.
"Hallo, Bakugou."
Er starrte sie eine Weile an, da er nicht verstehen konnte, was gerade passiert war. Klar, sie war ein Geist, ergo gab es tausend Dinge um sie herum die er nicht verstand, doch das hier überschritt eine Grenze.
„Du hast dich umgedreht und bist wieder hierhergelaufen", murmelte er.
„Was meinst du?", fragte sie verwirrt, was ihm zeigte, dass sie sich wieder nicht erinnern konnte. Behutsam ließ er sich neben ihr fallen und starrte an die Decke.
„Das klingt wahrscheinlich seltsam, aber du bist eben mit mir mitgelaufen. Kurz vor dem Aufzug hast du plötzlich alle Gesichtsausdruck verloren und hast dich umgedreht, um wieder herzukommen."
Jetzt war sie an der Reihe um ihn ungläubig anzustarren.
„Nein."
„Warum sollte ich lügen?"
„Weil...", zögerte sie und wandte sich von ihm ab. Natürlich glaubte sie ihm, doch jetzt, da er darüber nachdachte, fiel es ihr bestimmt nicht leicht, es wirklich zu begreifen. Schließlich machte es sie irgendwie willenlos, ein Opfer von irgendeiner höheren Gewalt die weder er noch sie kannten. Das war vermutlich verdammt gruselig.
Er warf einen kurzen Blick auf ihre zitternde Silhouette. Sofort machte sein Herz ein paar ungesunde Hüpfer, so als würde es am liebsten aus seiner Brust hüpfen, um sie zu umarmen. Abgesehen davon dass er nicht der Typ dafür war, irgendjemanden zu trösten, geschweige denn körperlich, war das schlichtweg nicht möglich. Er konnte sie nicht spüren. Wenn er die Brille und das Radio wegwerfen würde wäre da nichts mehr von ihrer Existenz, das er wahrnehmen könnte. Vielleicht das seltene Rascheln von Papieren an seiner Pinnwand oder eine Buchseite, die sich wie vom Wind erfasst umdrehen würde.
Also starrte er einfach weiter an die Decke, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte.
„Ich bin doch schon mal weiter gelaufen als das."
„Ja. Irgendetwas muss da anders gewesen sein. Oder es geht nur heute nicht. Warum auch immer."
„Wollen wir es morgen nochmal versuchen?"
Er nickte.
„Okay."

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