O6 | AVELINA

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Und er hatte Recht, ich schaffte den Bus nicht mehr.

Das war mir aber relativ egal, ich beschloss einfach, ein bisschen durch den Ort zu gehen, der nächste Bus kam schließlich in einer Stunde.

Ich lief an dem Kiosk neben unserer Schule vorbei, an der Parkanlage mit dem Springbrunnen, dem angrenzenden Skaterpark sowie dem Netto.

An der Ampel überlegte ich, ob es klug wäre, mir jetzt etwas zu Naschen zu kaufen, doch entschied mich dafür. Warum auch nicht?

Auf dem Parkplatz den Nettos stand ein mir vertrauter, silbergrauer VW Passat. Das Auto fahren nicht besonders wenig Leute und trotzdem meinte mein Herz, einen kleinen Satz machen zu müssen.

Ich ging ins Netto und konnte mir kaum ein Grinsen verkneifen. Den Gang geradeaus lief ich auf die Kühltheke zu und griff anschließend meinen eisgekühlten Cappuccino.

Ich stöberte noch ein bisschen und entschloss mich, noch eine Schokolade zu kaufen, als sich mein Verdacht bestätigte. Damian war doch hier.

Ich erkannte ihn durch das Regal hindurch und sah zu, wie er seine Haare raufte. Ich liebte diese Geste.

Kurzentschlossen ging ich um das Regal in den nächsten Gang und fragte ihn, was er denn suche.

"Den Cappuccino, ich finde ihn nur nicht." Achso?

"Welchen denn? Den hier?", fragte ich und wackelte mit meinem 49-Cent 'Eiskaffee' vor seinen Augen.

Er bejahte und versuchte, ihn mir aus der Hand zu reißen.

"Ave - gib den - her jetzt!", keuchte er, völlig außer Atem. Irgendwie landete ich durch diese kurze Rauferei in seinen Armen und schaute zu ihm auf.

Sein Blick fiel auf mich, unsere Augen starrten einander an. Aus seinen zum Grinsen geformten Lippen wurde ein leicht offenstehender Mund und ich schaute ihn einfach nur an.

Wie so oft versuchte ich, mir seine Gesichtskonturen einzuprägen. Wie so oft wünschte ich mir, er würde mir näher kommen.

Er drückte mich noch einmal so sanft, dass ich meinte, es mir eingebildet zu haben, an sich, bevor er die Situation auflöste und sich von mir entfernte.

"Er hatte sich meinen Cappuccino übrigens genau in der Bewegung geschnappt und war schneller an der Kasse, als ich diese Situation verarbeiten konnte.

"Ave, ich fahre dich übrigens nach Hause. Keine Widerrede.", sagte er, während er der Kassiererin Geld übergab und ihr freundlich zunickte, bevor er den Laden verließ.

Ich lief ihm hinterher und bevor ich irgendetwas sagen konnte, hatte er sein Auto entsperrt und hielt mir bereits die Vordertür auf.

Ich stieg ein. Die Situation habe ich immernoch nicht realisiert.

Er stieg auch ein und übergab mir den Billig-Cappuccino. "Nö, den hast du bezahlt, den trinke ich nicht."

"Trink!"

"Nein, den werde ich nicht trinken. Das ist Ihr Geld. Das können Sie vergessen."

"Avelina, mach mir keine Szene. Und wo ist denn eigentlich das 'Du' von geradeeben geblieben? - Und was würdest du machen, wenn du wissen würdest, dass ich den 'Kaffee' nur wegen dir gekauft habe?"

Wir standen immernoch auf dem verdammten Parkplatz.

Auf seine Frage wusste ich keine Antwort, weswegen ich mich anschnallte und das Süssgetränk öffnete. Meinen Kaffee brauchte ich jeden Tag, meistens trank ich ihn im Unterricht. Ihm muss wohl aufgefallen sein, dass ich es heute früh nicht mehr geschafft habe, mir einen zu holen.

Er drehte das Radio auf und ich summte leise zu zweitklassigen Popsongs mit. die meiste Zeit der Fahrt verlief schweigend.

Als wir gerade an der Ziegenherde vorbeifuhren, welche ich so oft durch das Busfenster beobachtet hatte, legte er die Hand das erste Mal auf meinen Oberschenkel. Dann fuhr er falsch ab, direkt in den Wald hinein.

"Ave.", sagte er wieder nur meinen Namen, parkte den Wagen auf einem kleinen Waldparkplatz und schnallte sich ab.

"Ave, du hast jetzt keine Chance, mir zu entfliehen. Ich frage dich ruhig, für wen war der Zettel letzte Woche bestimmt? An wen hast du gedacht, wer hat dich so sehr verletzt?"

Ich hätte jetzt mit Allem gerechnet, aber nicht mit dieser Frage.

Fuck, war dieser Mann nachtragend.
Fuck, war das heiß.

"Ave bitte, welcher Mistkerl hat dich so verletzt?"

Ich schnallte mich ebenfalls ab, sah ihm tief in die Augen.

Ich küsste ihn. Ich weiss immernoch nicht, welche Sicherung in dem Moment in meinem Gehirn durchgebrannt war, doch es war befreiend. Endlich diese Lippen zu spüren. Endlich.

Als ich von ihm abließ, schnallte er sich wieder an und startete den Wagen. Wortlos.

Die folgenden fünfzehn Minuten verbrachten wir in purer Stille, nichtmal mehr das Radio lief. Zu hören waren nur das gleichmäßige Klappern der kaputten Lüfterklappen und ab und zu das Klicken des Blinkers.

"Damian...", versuchte ich es, als wir in meiner Nähe waren. Er schaute mich nichtmal aus dem Augenwinkel an.

"Ich will nicht nur dein beschissenes Trostpflaster sein, weil irgendein abgehobener Typ aus 'ner Klasse über dir dein Herz gebrochen hat."

Bei den Worten sah er mir endlich in die Augen und plötzliche Kälte umgab mich. Eisige Kälte.

"Nicht irgendeiner. Du. DU!"

Das letzte Wort schrie ich ihm entgegen. Danach knallte ich meine Autotür zu und lief über das Feld zur nächstbesten Bushaltestelle.

17 - his studentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt