O3 | AVELINA

1.1K 10 4
                                    

Nachdem ich mehrfach tief durchgeatmet hatte, klingelte es wieder zur Stunde und ich betrat unser Klassenzimmer. Auf eine zweite Stunde Mathematik, auf eine zweite Stunde Laykon.

Wirklich zur Ruhe gekommen bin ich genauso wenig, wie sich meine Gedanken ordnen und mein Kopf klarer werden konnte.

Ich holte meinen Block wieder unter meinen Büchern hervor und begann zu kritzeln. Die blauen Kreise auf dem Rand meines karierten Papieres wurden immer größer, verschlungen sich ineinander und waren gleichermaßen durcheinander wie mein Inneres.

Seine Stimme flog an mir vorbei, erfüllte den Raum, während mir etwas auffiel.

Der Zettel, mein Zettel. Weg.

In meinem Inneren kroch Panik hoch, Gedanken, die sich nicht bewahrheiten durften. Und so sah ich das erste mal in dieser Stunde auf. Direkt nach vorn.

Intensiv wie noch nie und komplett unerwartet traf mich sein Blick. Die Klasse hielt den Kopf gesenkt und schrieb mehr oder weniger eifrig irgendwelche Merksätze oder Zahlen in ihre Hefter, während wir uns einfach nur ansahen.

Sein Gesicht war ausdruckslos, seine Augen kühl, seine Haare zertrubbelt. Ich war fixiert. Auf ihn. Auf die Stimmung, die sich in diesem Raum ausbreitete.

Und ich befand mich irgendwo zwischen dem Verlangen, ihm endlich näher zu kommen und der Angst, mein Selbstbewusstsein zu verlieren.

Er lenkte meinen Blick mit einer Geste auf die Fensterbank neben ihm, auf welcher er lässig seinen Ellenbogen abstützte. Ich folgte seinem Arm mit meinem Blick bis zu seiner Hand, mit der Damian einen zusammengefalteten Zettel hielt.

Augenblicklich spürte ich, wie sich sein Blick verfinsterte, als er registrierte, dass ich verstand, was passiert war.

Mit seinen Lippen formte er das Wort 'Nachsitzen'. Ich riss mich von ihm los, schloss meine Augen und versuchte, meinen Körper unter Kontrolle zu halten.

Die ganze restliche Stunde würdigte er mich keines Blickes mehr. Nicht einmal als er das Zimmer verließ. Als er noch Gast in der Klasse war, zwinkerte er mir jedes Mal zu, wenn er den Raum wechseln musste.

Sollte sich wirklich so viel geändert haben, nur, weil ich ihn jetzt siezen muss und er vorne statt hinten sitzt?

Nachdem ich die Englischstunde hinter mich gebracht hatte, wollte ich schnellstmöglich meine Sachen zusammenpacken und das graue Gebäude verlassen.

Das Triste hinter mir lassen, mich auf mein Sofa fallen lassen und an ihn denken. Auf eine Art und Weise an ihn denken, als gäbe es diese Distanz nicht, als hätten meine Vorstellungen Hand und Fuß.

Nur kam es nicht dazu. Damian stand vor dem Zimmer, als erwarte er mich. Und ich müsste sagen, wenn ich jetzt nicht vor ihm einen Seelenstrip durchführen müsste, würde ich es sogar schön finden.

Kurz nachdem alle Schüler den Klassenraum verlassen hatten und wir unschlüssig auf dem Gang standen, drängelte er sich an mir vorbei und öffnete die Tür in das anliegende Vorbereitungszimmer.

In diesen schmalen Zimmern, welche je nach Fach entweder einer Rümpelkammer oder einem Minicafé glichen, stand die Luft durchgängig.

Wir saßen in der Rümpelkammervariante. Die Tür schloss er hinter sich, er schloss sie nur nicht ab.

Ich weiss nicht, welche Wege meine Gedanken zurücklegten, doch irgendetwas in mir wünschte sich, er hätte zugeschlossen.

Als er in meine Richtung kam, die Hände auf dem Tisch abstürzte und sich vorbeugte, war er mir gefährlich nahe.

So nah, dass ich seinen Duft einatmen konnte.

Ich schluckte schwer. Er fand beinah seine Sprache wieder, nicht lange, dann würde er etwas sagen. Damian schaute mich an. Nein, er schaute mich nicht an, er starrte erwartend. Ich spürte das Stechen, deswegen hob ich meinen Blick.

"Avelina!", fing er sich. "Für wen war dieser Zettel bestimmt?"

Seine Pupillen waren geweitet, sein Gesichtsausdruck verzerrt. "Für wen war dieser Zettel bestimmt?", wiederholte er sich betont ruhig. Obwohl er versuchte, unberührt zu wirken, merkte ich, wie es in ihm brodelte.

Ich wagte es nicht, den Blickkontakt zu unterbrechen. "Für mich. Für mich, verdammt, für einzig und allein meine Augen! Für meine Gedanken, für mein Wohlbefinden!"

Er schien zu überlegen. Diesmal ließ er seine brodelnde Wut nicht versteckt, als er fragte: "An wen sind sie gerichtet, um wen geht es hier?" Ich wusste nicht, ob das eine Fangfrage sein sollte, er sich scherzhaft blöd stellen möchte oder ähnliches.

Ich sah einen Ausdruck in seinen Augen, den ich nicht deuten konnte. Angst? Eifersucht? Wut? Einen Hauch Seelenregung?

Ich konnte mich zum Glück von seinen noch immer mich taxierenden Augen losreißen. "Das geht sie einen Scheissdreck an!", schrie ich ihn an, rannte an ihm vorbei, bis an die frische Luft. Raus, weg!

Peinlich, Ave, peinlich.

17 - his studentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt