Prolog

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Es war eine Sommernacht, in der alles begann. Das blasse Mondlicht fiel auf die blühenden Felder vor dem kunstvoll geschmiedeten Stadttor und streifte die Schieferdächer Pannas. Trotz des verhältnismäßig warmen Wetters waren alle Türen und Fenster geschlossen. Kein Mucks drang durch die Straßen, alle Lichter waren gelöscht. Nicht einmal die sonst so vorlauten Schäferhunde bellten. Eine gewisse Spannung lag über der Stadt und ihren schlafenden Bewohnern. Als ahnten sie, dass diese Nacht nicht so friedlich war, wie sie schien.
Ein spielerischer Küstenwind trieb die Wolken auseinander und wirbelte frisch zusammengekehrte Blätter auf. Eines von ihnen, ein verwelktes Zyanenblatt, ließ sich mit der Luft treiben und tanzte durch die Städte, nicht an den Schatten interessiert, die die Menschen so fürchteten. Munter schwebte es an Wänden und Zäunen vorbei, fegte über die abgebauten Stände auf dem Marktplatz und wurde hinauf zur großen Sonnenuhr, die wie immer in der Dunkelheit nicht funktionierte, getragen.
Trudelnd wich das Blatt den großen Standsteinen und der tödlichen Messingspitze aus, nur, um wenige Meter weiter, an einem der großen Fenstergitter hängenzubleiben. Der Wind versuchte noch einmal, es mit sich zu reißen, gab jedoch auf, als die ersten Risse erschienen. Er ließ das Blatt gehen, toste noch einmal um den Turm und jagte dann davon, um das Schilf aufzuschrecken
Im Inneren des Turmzimmers, hinter dem dicken, schneeweißen Vorhang, brannte eine Öllampe und erhellte die Gesichter der Wartenden. Fünf Frauen jeden Alters waren es, allesamt in identische Gewänder in den Farben der Stadt gekleidet, standen in einem Halbkreis und blickte abwartend ins Feuer. Keine von ihnen kümmerte der Wind, der draußen seine Spielchen trieb. Eine jedoch, die Sechste, hatte sich aus der Gruppe gelöst, schritt beunruhigt vor dem Vorhang auf und ab, immer wieder einen nervösen Blick auf ihren eigenen Schatten werfend.
Niemand versuchte es, sie zur Ruhe zu bitten, denn sie alle verstanden, was es für sie bedeutete, wenn eine weitere Minute verstrich, in der nichts geschah. Die jüngeren unter ihnen sahen immer wieder verstohlen zu der gebrechlichen Alten, die auf einem Teppich vor der Lampe saß und mit ihren blinden Augen die Flamme betrachtete. Sie schienen sich eine Reaktion zu erhoffen, doch das Gesicht der Frau zeigte keine Regung. Hätte sie nicht hin und wieder geblinzelt, hätte man meinen können, sie schliefe.
Schließlich räusperte sich eine der Tempelhüterinnen leise. »Iskra«, sagte sie beschwörend. »Bald ist das Öl ausgebrannt. Du weißt, dass es langsam zu spät wird.«
»Sie wird zurückkehren«, gab die Laufende scharf zurück und richtige die stechenden, grünen Augen auf ihr Gegenüber, das zusammenzuckte, wenngleich sie die Ältere der beiden war.
»Sie ist fähig, diese Aufgabe zu bewältigen. So ist es vorausgesagt worden.«
»Mit Verlaub«, meldete sich die Jüngste der Truppe, die gerade mal das Erwachsenenalter überschritten haben durfte. »die Prophetin sagte, wenn jemand, der fähig genug ist, durch die Schatten zu tanzen, wird er mit dem Kind zurückkehren können. Es ist nie ausdrücklich gesagt worden, dass ...«
»Das ist sie!« Die junge Frau fuhr zusammen und senkte beschämt den Blick.
Die Lippen der alten Frau zuckten minimal und wurden schmaler. »Geduld.« Kaum hatte sie die dünne Stimme erhoben, strafften die Anwesenden die Schultern und richteten die Blicke auf sie. „Noch könnte sie in Sicherheit sein. Es bringt keinem etwas, die aufgeheizten Gemüter noch mehr zu reizen. Iskra, vielleicht hilft es dir, wenn du dich setzt."
»Ich werde mit Sicherheit nicht ...« Die Hüterin verstummte, als ihr Schatten sich schlagartig kräuselte, als hätte man Steine ins Wasser geworfen. Die Dunkelheit krümmte sich, wie um eine zweite Gestalt zu imitieren. Sie richtete sich langsam auf, wurde größer und veränderte ihren Umriss, bis sie sich in eine völlig andere Silhouette verwandelte.
Der Schatten machte einen Schritt, den seine Besitzerin nicht tat, und aus ihm trat eine junge Frau, vielleicht Mitte zwanzig, gewandet in einen weiten Umhang und staubfarbenen Stoff. Blut tränkte die Kleidung und benetzte ihre Lippen. Die Kapuze glitt ihr von den hellen Haaren und tauchte ihr schreckblasses Gesicht ins Licht. Der Atem der Frau ging stoßweise und ihr gesamter Leib bebte.
Die jüngste Tempelhüterin reagierte am schnellsten und griff das sich windende, in dunkle Seide gehüllte Bündel aus ihren Armen, während die neben ihr nach vorne stürzte und ihrer Freundin zur Hilfe eilen wollte, doch sie wurde von einem barschen »Halt!« unterbrochen. Die Alte hielt die Hand erhoben und bedeutete ihr, keine Bewegung zu machen. »Nicht anfassen.«
Langsam und Tränen unterdrückend drehte sich die junge Frau zu ihrer Mutter um und starrte sie aus entsetzt geweiteten Augen an. In ihrem Blick tanzten Todesangst und Wahnsinn, rangen um die Oberhand. Auch die Augenwinkel der ersten Tempelhüterin, Iskra, füllten sich mit Tränen, wusste sie doch, was nun geschehen würde.
Sie hatte sie schon von Anfang an gewusst. Schon als ihre Tochter sich dafür gemeldet hatte, diese Aufgabe anzunehmen, hatte sie ein Gefühl gehabt, dass sie es nicht schaffen würde. Lange hatte sie versucht, sie zu überreden, doch sie war bei ihrer Meinung geblieben. Das Schicksal ihres Landes war wichtiger als ihr eigenes, davon war sie schon immer überzeugt gewesen.
Stolz war sie in den ersten Abendstunden durch die Schatten getreten, nachdem sie sich tränenreich verabschiedet hatten. Sicher, sie beide hatten gehofft, einander wiederzusehen, doch hatten sowohl Mutter als Tochter schon immer einen siebten Sinn dafür gehabt, wer überlebte und wer nicht.
Das Lebenslicht verschwand aus den Augen der jungen Frau in dem Moment, in dem ihre Mutter ihren Blick auffangen und erwidern konnte. Ihr Körper erstarrte und zerfiel, floss zurück in den Schatten, aus dem sie gekommen war. Nur Blutflecken blieben auf dem sandfarbenen Stein zurück.
Schweigen hüllte den Raum ein, bis das Bündel in den Armen der jüngsten Hüterin zu weinen begann. Hastig wiegte sie es hin und her, murmelte beruhigende Worte, doch man sah ihr an, dass sie sich hilflos fühlte. Der Tempel war nicht für kleine Kinder ausgerichtet und seine Bewohnerinnen nicht mit ihnen vertraut, wenn sie nicht vor dem Eintritt schon ein eigenes Kind geboren hatten.
Stille Tränen flossen über das Gesicht der Hüterin, während sie neben der Stelle, an der ihre Tochter verschwunden war, niedersank. Ihre Schultern bebten und ihr Gesicht, faltiger als es in ihrem Alter hätte sein sollten, war verzogen von Schmerz und Gram. Kein Laut drang über ihre Lippen, als sie mit zitternden Fingern eine silberne Haarnadel in Form eines Fisches aufhob und an ihrer Kutte befestigte.
Auch andere aus der kleinen Gruppe vergossen stumme Tränen, keine jedoch wagte es, zu nah an ihre Schwester im Geiste heranzutreten. Ihnen allen war bewusst, dass sie nicht helfen konnten.
»Vielleicht ...«, brachte eine von ihnen nach langsam Schweigen hervor. »sollte jemand anderes das Kind in Sicherheit bringen.« Vielsagend deutete sie auf das noch immer schreiende Baby, dem allmählich bewusst werden zu schien, dass es aus seiner bekannten Umgebung gerissen worden war.
»Nein.« Überrascht sah die, die eben gesprochen hatte, auf und musterte die auf dem Boden sitzende Frau. »Nein, ich werde sie begleiten, wie geplant.«
»Sicher?«, hakte die ältere Hüterin nach und erhielt ein Nicken zu Antwort.
Langsam erhob sich die Anführerin der Tempelschwestern und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Ihre Augen waren gerötet, doch ihre Miene ernst und duldete keinen Widerspruch. »Meine Tochter hat sich geopfert, um dieses Mädchen zu retten, um uns alle zu retten. Ich werde dieses Opfer nicht zunichtemachen.« Sie warf einen hastigen Blick auf die beinahe heruntergebrannte Lampe. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Gebt sie mir.«
Nur zögerlich überreichte das Mädchen ihr das Bündel wie einen kostbaren Schatz. Wenngleich das Kind noch immer weinte, hatte es sich inzwischen dazu erbarmt, nicht mehr so laut zu sein. Zum ersten Mal in ihrem Leben war die Hüterin dankbar dafür, dass die Dunkelheit der Nacht zu sehr gefürchtet wurde als dass jemand um diese Uhrzeit noch das Haus verlassen hätte. So würde es keinen geben, der sich wunderte, warum im Turm des Tempels ein Baby schrie.
Behutsam tupfte sie das Gesicht der Kleinen mit dem Tuch ab, in das sie gewickelt war, so wie sie es auch vor vielen Jahren mit ihrer eigenen Tochter getan hatte. Wieder spürte sie Tränen aufsteigen und zwang sich, die Angst beiseitezuschieben. »Wann legt das Schiff ab?«, fragte sie bemüht ruhig und wiegte das Kind sanfter als die andere es getan hatte. Seine müden, verweinten Augen fielen langsam zu und das Weinen wurde leiser.
»In der Morgendämmerung«, antwortete das Mädchen sofort. »Denk daran, ihr dürft nicht an Land gehen, wenn das Schiff in der Sichelbucht anlegt. Er wird bestimmt versuchen, euch zu finden.«
»Iskra weiß, was sie zu tun hat«, erinnerte die Alte sie und seufzte schwerfällig. »Geht jetzt. Je mehr Zeit ihr hier verbringt, desto wahrscheinlicher wird ein Angriff. Die Dunkelheit spürt sie.«
Die sechs Schwestern nickten und fünf von ihnen eilten eilig davon, nur die, die soeben ihre Tochter verloren hatte, blieb noch stehen und musterte die Frau vor ihr mit einer Mischung aus Verachtung und Respekt.
»Ihr habt gewusst, dass sie es nicht schaffen würde«, sagte sie, als die Schritte der anderen verklungen waren. »Ihr habt zugelassen, dass Lenka in den Tod geht.«
Die Alte schwieg und schloss die Augen, als ahnte sie bereits, dass jeder Versuch der Verteidigung ihr Gegenüber nur noch zorniger machen würde. »Das alles für ein Kind, von dem wir nicht wissen, was geschehen wird, wenn es lebt.« Sie berührte die Haarnadel und blinzelte gegen die Tränen an. »Ich hoffe für Euch, dass der Preis, den ich und alle hier zahlen mussten, hoch genug war, um Euch endlich zufriedenzustellen.«
Mit diesen Worten rauschte sie aus dem Raum, das Baby fest an sich drückend und keinen Blick mehr zurückwerfend. Die Alte rührte sich nicht. Ihr Blick war weiterhin in die Ferne gerichtet, ausdruckslos und unendlich weise. Ein Seufzen fuhr durch den Raum, als würden die Wände, die Stoffe, das Feuer selbst seine Trauer zum Ausdruck bringen wollen. Mit einem Flackern verlosch die Öllampe.

Tänzerin der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt