Die Augen der Schatten

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Kornähren peitschen gegen Kiaras zitternde Beine. Sie versuchte, anhand ihrer eigenen Atemzüge zu erkennen, wie lange sie schon rannte, doch es wollte nicht funktionieren. Sie lief einfach weiter, so schnell, dass sie kaum etwas von ihrer Umgebung ausmachen konnte. Selbst, wenn sie gewusst hätte, wo sie überhaupt war, wäre sie vollkommen verloren gewesen.
Die Welt war zu einem Meer aus Gold, Braun und Grün verschwommen. Sie war dazu übergegangen, die Augen auf ihre Schuhe zu heften um nicht zu stolpern. Auf diese Weise konnte sie sich minimal von ihren eigenen Gedanken ablenken. Es gab nur noch drei Dinge auf der Welt: Rennen, auf den Beinen bleiben, Atmen.
Kiara fühlte sich verfolgt. Sie wusste nicht, von wem oder was, sie war sich nicht einmal sicher, ob sie sich das nur einbildete. Vermutlich tat sie das. Doch das brennende Kribbeln ihn ihrem Nacken, das genauso gut auch durch die kurzen, dünnen Haarsträhnen, die sie gerne einmal an genau dieser Stelle kitzelten und piekten, entstanden sein könnte, wollte einfach nicht verschwinden. Sie legte einen Zahn zu und war sich sicher, jeden Moment zusammenzubrechen. In dieser Geschwindigkeit konnte sie unmöglich lange laufen.
Vielleicht waren es Fynn und Iskra, die ihr gefolgt waren. Womöglich wollten sie sich entschuldigen. Ein Schnauben entwich Kiara. Im Stillen schalt sie sich selbst für ihre dumme Hoffnung. Warum sollte es sie noch kümmern, was diese Frau von ihr dachte? Sie hatte sie ihr Leben lang belogen, hatte ihr die Wahrheit verschwiegen und nicht einmal erwähnt, dass sie womöglich nicht verwandt sein könnten. Was sollte sie noch glauben? Was von dem, was man ihr beigebracht hatte, war überhaupt die Wahrheit?
Mit dem höher werden Japsen nach Luft änderte sich plötzlich auch der Boden unter Kiaras Füßen. Die Erde wurde fester, Wurzeln durchzogen sie wie ein Geflecht von Narben, es wurde dunkler und das erbarmungslose Sonnenlicht ebbte gemeinsam mit dem scharfen Meereswind ab.
Taumelnd und schlitternd kam Kiara am Rande einer mit Gras überwachsenen Lichtung zum Stehen. Sie stützte sich auf ihre eigenen Knie und starrte krampfhaft ihre Beine hinab, wollte sie dazu bringen, nicht mehr zu zittern. Als es nichts brachte, lehnte sie sich gegen einen der hohen Bäume, die um sie herum aufragten und zwang sich, ruhiger zu atmen. Ihr Herz pochte so schnell, dass sie es in ihren Adern an Hals und Stirn spüren konnte. Ihre Kehle war wie ausgedörrt und ihr Magen schmerzte, doch noch immer war Kiara so speiübel, dass sie um nichts in der Welt etwas zu Essen angerührt hätte.
Sie starrte das Blätterdach über sich an und konzentrierte sich auf einen einzelnen, schmalen Ast wenige Meter über ihrem Kopf. Langsam kam sie wieder zur Ruhe. Das Rauschen in ihren Ohren nahm ab und sie konnte wieder das Vogelgezwitscher vernehmen, das durch den kleinen Wald glitt. Ein kleiner Bach, kaum weniger als ein schmales Rinnsal, schlängelte sich über die freie Fläche. Sommerblumen und -kräuter wuchsen an seinen Ufern, die keine Armlänge voneinander entfernt waren.
Der Klang von frischem Wasser lockte Kiara. Zögerlich stieß sie sich ab und machte einige Schritte nach vorne. Als sie sicher war, nicht jeden Augenblick zusammenzubrechen, hastete sie zum Flüsschen und schöpfte eine Hand voll Wasser heraus. In der Stadt hätte sie das niemals getan. Das Ostseewasser war absolut untrinkbar und die künstlich angelegten Kanäle, die der Ort besessen hatte, waren derartig von Unrat und Fabrikabfällen beschmutzt gewesen, dass man krank geworden wäre, hätte man es zu sich genommen.
Das Wasser aus dem Bach aber sah frisch aus. Es war weder trüb noch von Algen und Sand verdreckt. Zögerlich nahm Kiara einen Schluck, nur, um im nächsten Augenblick ihre Hand ein zweites Mal zu füllen und ihren Durst zu stillen. Das Wasser, wenn auch nicht sonderlich geschmackvoll oder warm wie der Tee, den sie oft im Heim bekommen hatten, kam ihr vor wie ein Geschenk des Himmels. Noch nie hatte sie so schnell getrunken.
Als Kiara sich wieder aufsetzte, lauschte sie in den Wald hinein. Vielleicht hatte sie sich doch geirrt. Vielleicht verfolgte sie gar niemand und sie hatte nur ihre eigenen Schritte gehört, hatte nur ihren eigenen Atem wahrgenommen. Sie wünschte, sie wäre beruhigter gewesen, als sie nichts vernahm. Doch das war Kiara nicht. Das war sie ganz und gar nicht.
Nicht nur Schritte waren verstummt. Nicht nur Stimmen drangen nicht durch die Bäume zu ihr durch. Alles war verstummt. Die Vögel hatten ihren lieblichen Sommergesang unterbrochen und waren so leise, dass sie sich unwillkürlich die Frage stellte, wer sie abgemurkst hatte. Das Plätschern des Wassers klang zögerlicher, schien zu versuchen, sich ihrem Gehör zu entziehen. Das schwache Rauschen der Meeresbrise, die das Brennen der Sonne gelindert hatte, war verflogen. Im nächsten Moment wünschte Kiara sich, sie hätte nichts dazu gedacht, denn just da schob sich eine Wolke vor die Sonne und verdeckte ihre Strahlen.
Kiara hob den Kopf und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen nach oben, um sich an die plötzliche Gräue ihrer Umgebung zu gewöhnen. Sie fröstelte. Auf einmal fror sie in ihrer zu großen, warmen Jacke und schob die Ärmel über ihre langen, schmalen Spinnenbeinfinger. Ihr Herz begann wieder, heftig zu pochen, als befände sie sich wieder auf der Flucht. Das Kribbeln in ihrem Nacken setzte ein und sie spannte sich an.
Konnte es ein Raubtier sein? Gab es hier auf Velryba Luchse oder gar Wölfe? Kiara war nie selbst einem begegnet, doch sie wusste, dass an den Ausläufern des Ortes, die tiefer ins Land führten, gerne mal ein unschuldiges Schaf über Nacht verschwand. Sie wäre wirklich ungern eines dieser Schafe geworden.
Am liebsten hätte Kiara einen schnellen Blick über ihre Schulter geworfen, nur, um dann aufzuspringen und um ihr Leben zu rennen. Aber so wenig Erfahrung sie auch mit wilden Tieren gehabt hatte, sie wusste erstens sehr wohl, dass eine derartige Aktion ihr Todesurteil besiegeln würde, und zweitens, dass die Welt nicht still wurde, weil eines von ihnen erschien. Sie hätte mindestens mit einem Knurren gerechnet, als sie sich minimal regte.
Bildete sie es sich nur ein? Nein, beschloss sie nach einem Herzschlag. Das tat sie nicht. Diese Situation war nicht ihrer lebhaften Fantasie geschuldet. Allmählich schwante ihr, dass etwas viel Gefährlicheres als ein Wolf hinter ihr stand.
Die Sekunden verstrichen zäh wie Honig, doch als sie noch immer nicht angefallen worden war und ihr linkes Auge zu zucken begann, beschloss Kiara, dass ihre Schreckensvorstellungen, der Gedanken daran, nicht zu wissen, was ihr auf der Spur war, schrecklicher waren als alles, was die Wirklichkeit hervorbringen könnte. Langsam wandte sie den Kopf um und warf einen Blick über ihre angespannten Schultern. Sie war bereit, jeden Moment zu flüchten, auch wenn es womöglich nicht viel bringen würde.
Sie blinzelte. Zuerst sah sie gar nichts. Die Zweige der Bäume malten dunklere Flecken auf das Gras und die Schneise, die sie bei ihrem Sprint geschlagen hatte. Die Äste zitterten, nicht durch den Wind, eher vor Kälte. Kiara wollte ausatmen. Sie hatte sich geirrt. Da war gar nichts.
Doch genau in dem Augenblick wurde ihr Blick schärfer. Ihre Augen nahmen die hauchzarten Bewegungen auf dem Boden wahr, die nicht von der Luft kommen konnten. Etwas wanderte durchs Gras. Erst dachte sie an eine Schlange, die sie als Opfer gewählt hatte, doch das Rascheln war zu zahlreich, um von einem Tier allein zu kommen. Plötzlich war wieder ein Geräusch da. Das Zischen von aneinanderreibenden Grashalmen. Überall um sie herum rotteten sich kleine Punkte von Dunkelheit zusammen, bis sich sechs Schatten erhoben und die Lichtung umkreist hatten.

Tänzerin der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt