Eine eigenartige Unruhe lag über der Stadt. In dem Moment, in dem sie die Augen über den Hafen gleiten ließ, der dieses Mal wirklich wie einer aussah, konnte Kiara es über ihre Haut laufen spüren, als würde sie noch einmal mit Wasser begossen werden.
Womöglich irrte sie sich und es kam ihr nur so vor, weil sie noch immer vor Nässe triefte, doch in einem war sie sich sicher; irgendwas an dieser Stadt brachte sie dazu, sich unwohl zu fühlen. Die Menschen, die die Köpfe hoben und sie mit den Augen verfolgten, waren allesamt fahrig in ihren Bewegungen, warfen immer wieder hastige Blicke in den Himmel, als rechneten sie mit Regen. Auf den Straßen konnte Kiara keine Kinder entdecken, alle trugen verschlissene, gräuliche Gewänder.
Das hier sollte ihre Heimat sein? Sonderlich heimatlich kam sie Kiara nicht vor. Sicher, sie hatte nicht erwartet, sich an einem fremden Ort vollkommen Zuhause zu fühlen, aber zumindest eine gewisse Zugehörigkeit hatte sie sich doch insgeheim erhofft.
Sie folgte Fynns Blick zu einem freien Anleger, an dem fünf Gestalten standen, die sich deutlich von der Menge abhoben. Alle trugen sie Umhänge wie Fynn, was Kiara feststellte, als sie auf die Gruppe zuhielten. Sie meinte, zu erkennen, dass es sich um drei Männer und zwei Frauen handelte, konnte sich aber auch irren. Als sie mit dem Bug gegen den Pfosten stießen, griff eine der Frauen, die in der vorderen Reihe stand, nach einem Seil und vertäute das Boot.
Der Älteste der Gruppe, ein Mann mit grauem Bart und einer altmodischen Armbrust über der Schulter, trat vor und musterte erst sie, dann ihre Großmutter und schließlich Fynn mit einer Mischung aus Wut und Abschätzung, die sie bei den meisten Erwachsenen sah, wenn sie ihnen in die Augen blickte. Unwillkürlich nahm sie die Abneigung der Alten gegenüber dem Mann wahr.
»Hast du einen Schattenangriff nicht bedacht, als du abgehauen bist?«, herrschte er Fynn nach kurzem Schweigen an. Der sank in sich zusammen und stieg mit hängenden Schultern aus dem Boot. Sein Mantel und seine Haare tropften fast so schlimm wie Kiaras eigene Kleidung. Er gab keine Antwort, hielt den Kopf gen Boden gerichtet.
Der Mann vor ihm seufzte laut und bedeutete Kiara und ihrer Großmutter, auszusteigen. Überaus zögerlich gehorchte sie, doch als sie den Kopf umwandte und fragend zu ihrer Großmutter blickte, mühte die sich noch damit ab, aufzustehen. Was auch immer passiert war, es musste ihr so hart zugesetzt haben, dass sie nicht mehr stehen konnte. Kiara wollte ihr schon zur Hilfe eilen, als die blonde Frau, die das Boot auch festgemacht hatte, hineinstieg und Kiaras Großmutter stützte. Stirnrunzelnd stellte Kiara fest, dass sie ihren linken Arm nicht verwendete und der Ärmel ihrer Tunika schlaff nach unten hing. Komisch.
»Rose, Aurinko«, wandte der Alte sich an die Blondine und die zweite Frau, fast noch ein Mädchen, nachdem er Kiara und ihre Großmutter noch einmal genauer aus zusammengekniffenen Augen betrachtet hatte. »Bringt diese beiden zum Versorgungszelt und sorgt dafür, dass sie sich keine Unterkühlung holen. Król ...« Er drehte sich wieder zu Fynn, der bei Erwähnung seines Nachnamens die Schultern hochzog. »Zum General mit dir.«
Fynn wurde blass, starrte weiterhin zu Boden und reagierte nicht.
Ob er doch noch etwas sagte, bekam Kiara nicht mit, denn die zweite Frau, die Kiara auf maximal zwanzig schätzte, griff sie sanft an der Schulter. Sie lächelte ihr aufmunternd zu und führte sie hinter der Blondine und Kiaras Großmutter hinterher. »Na, komm mal mit. Wir verarzten jetzt deine Wunden, du ruhst dich aus und dann erzählst du uns, was passiert ist, ja?«
»Was machen die jetzt mit Fynn?«, rutschte es aus ihr heraus, ehe sie weiter darüber nachdenken konnte. Sie warf einen Blick über ihre Schulter, reckte den Hals und meinte, zu erkennen, wie er in die entgegengesetzte Richtung verschwand, doch die Menschenmenge um sie herum versperrte ihr die Sicht. Sie gingen tiefer in die Stadt hinein, auf das große, weiße Gebäude zu.
DU LIEST GERADE
Tänzerin der Schatten
FantasyEtwas bewegte sich in der Dunkelheit. Sie holte zitternd Atem. Ihr ganzes Leben lang hatte Kiara gesehen, wie Leute die Nacht und ihre Schecken fürchteten. Sie musste zugeben, für sie war die Nacht nichts gewesen, das ihr Angst machte. Im Gegenteil...