Kiara saß zusammengekauert am Rande einer Gasse, eng an die Hauswand neben sich gepresst, und wartete auf das Schlagen der großen Turmuhr. Die langsam untergehende Sonne blendete sie und so hielt sie die Augen angestrengt zusammengekniffen, während sie die Menge nach einem unbedachten Opfer absuchte. An Tagen wie diesem hatte sie Glück, der Marktplatz war gut besucht und es gab sogar den ein oder anderen Noblen, der sich unter das Volk mischte, um ein paar hübsche Stoffe oder Emaillestücke zu erwerben.
Unwillkürlich fuhr sie mit den Fingerspitzen über den Beutel aus abgenutztem Leder an ihrer Hüfte und drückte ihn fester an sich. Er war leer. Frust sammelte sich in ihr an und sie unterdrückte ein Seufzen. Eigentlich hatte Kiara heute großen Gewinn machen können, doch ausgerechnet gestern hatte Fräulein Krysia sie dabei erwischt, wie sie den Abwasch geschwänzt hatte.
Also hatte sie es heute allein nachholen dürfen. All das Geld war verloren und es hatte sich nicht einmal gelohnt. Sie war am Abend dennoch zu spät gekommen, um noch Brot zu bekommen. Normalerweise wäre sie nur an einem Tag pro Woche zum Markt geschlichen, nun musste sie das Risiko schon zum zweiten Mal eingehen.
Kiara wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie Schritte hörte und richtete den Blick wieder auf die Straße vor sich. Menschen kamen und gingen, keiner von ihnen sah aus, als würde sie ihm problemlos ein paar Münzen entwenden können. Sie musste wirklich besser aufpassen. Vielleicht sollte sie es positiv sehen, ohne das klimpernde Geld würde sie weniger auffallen.
Langsam ließ sie die Augen über die Vorbeispazierenden streifen. Eine alte Frau mit Hut wurde von einem jüngeren Mann, vermutlich ihrem Sohn, in Arbeiterkleidung zum Hauptplatz geführt, ein paar Kinder in ihrem Alter schwatzten munter untereinander. Ihre Kleider waren gepflegter als Kiaras abgetragener staubgrauer Rock und das viel zu große Männerhemd, das sie in den Bund ihres Rockes steckte, damit es nicht wie ein Kleid an ihrer mageren Statur hing.
Sie versuchte, nicht eifersüchtig zu werden, wenn sie daran dachte, dass diese Kinder vermutlich nur Freude am Sommer hatten, weil sie nun länger außer Haus bleiben konnten und die Blumen wieder blühten. Kiara hingegen war erleichtert, dass sie in den nächsten Nächten vermutlich nicht frieren musste und das Wasser morgens wenigstens etwas wärmer wurde.
Nein, bei diesen Leuten würde sie nichts zu holen haben. Eine kleine Gestalt in einem altmodischen Mantel huschte an ihrer Gasse vorbei, zu schnell, als dass sie sie genauer inspizieren konnte. Verwundert blickte sie die Straße nach unten, dem wehenden Stück Stoff hinterher. Die Umstehenden schienen nichts zu bemerken, obwohl das doch ein recht merkwürdiger Aufzug war, wie sie fand. Hatte sie sich das nur eingebildet?
Doch sie hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn in diesem Moment entdeckte sie einen adrett gekleideten Mann mit prachtvollem Schnauzer und silbern blitzendem Gehstock. Er war allein unterwegs, wie Kiara schätzte, und erntete verstohlene, teilweise neidische Blicke, während er über die Kopfsteinstraße flanierte und hier und da jemanden grüßte, der ähnlich elegant gekleidet war wie er. Diejenigen, die als Bauern oder Handwerker arbeiteten, ignorierte er geflissentlich.
Doch das, was Kiaras Aufmerksamkeit erregte und ihr das Herz bis zum Halse schlagen ließ, war die versilberte Geldbörse, die an seinem Mantel befestigt war. Es war kein schnöder Beutel wie sie ihn hatte, es war eine tatsächliche Schatulle, mit Kette und allem Drum und Dran. Fast konnte sie die Münzen darin verheißungsvoll gegeneinander schlagen hören.
Kiara spürte, das hier war ihre Chance. Ein Mann von Wohlstand, der ohne Bewachung durch die Straßen ging, das würde ihr in diesem Monat sicher nicht noch einmal unter die Augen kommen. Sie wünschte sich ausnahmsweise weniger Menschen als mögliche Zeugen zu haben, aber in diesem Moment konnte sie sich nicht darum kümmern. Sie war gut genug, um das hier zu schaffen, da war sie sich sicher. Letzte Woche war es ihr doch auch gelungen, dem Schneider auf offener Straße den zweiten Geldbeutel abzuluchsen, wieso sollte ihr dieser Versuch nun Schwierigkeiten bereiten?
Sie schluckte und riss sich zusammen. Ihr Übermut durfte sie jetzt nicht übernehmen, nur, weil sie letztes Mal Glück gehabt hatte. Sie erhob sich so lautlos wie sie konnte, noch immer völlig im Schatten des Hauses neben sich verborgen, und raffte ihren Rock nach oben. Normalerweise tat sie das schon, wenn sie es sich an ihrem Stammplatz gemütlich machte, heute allerdings hatte es gedauert, bis ein paar Taugenichtse von hier verschwunden waren und so hatte sie keine Zeit gehabt.
Dreimal schlug sie den Bund ihres Rockes um, dann reichte er ihr nur noch bis knapp über die Knie, sodass sie schnell genug würde rennen können, um dem Mann zu entkommen, sollte sich ihr niemand in den Weg stellen. Noch einmal warf sie einen hastigen Blick auf die ihr gegenüberliegende Straße, die sich wie eine Schlange durch die Häuserblöcke wand und ihr Ausweg aus dem Chaos sein würde, dass sie mit ihrem Diebstahl stiften würde.
Als der Mann endlich auf ihrer Höhe war, wartete sie nicht länger und trat aus den Schatten ins Licht. Blitzschnell huschte sie hinter ihm vorbei, griff im Bruchteil eines Augenblicks nach der Geldbörse und riss sie mit einem derartigen Ruck von seinem Revers, dass sie die Kettenglieder aneinanderschlagen hören konnte. Eine Hand griff nach ihrem Arm, doch sie tauchte geschickt unter ihr hindurch und schoss so schnell sie konnte davon, in das Labyrinth der Straßen davon. Nur ein entrüstetes »Hey!« verfolgte sie.
Kiara war sich sicher, es würde nicht lange dauern, bis jemand sich daran machte, sie zu verfolgen. Wenn nicht die Soldaten der Stadt, dann die des Bestohlenen. So schlitterte sie weiter, nahm Umwege, versteckte sich in dunklen Ecken und sprintete im Zickzack vorbei an Hintertüren und Unrat.
Die Schatulle presste sie sich an die Brust, während ihr Atem schneller und schneller ging. Es fühlte sich beinahe an, als würde sie von Schatten zu Schatten springen, so schnell rannte sie. Schon bald hatte sie sich in dem graubraunen Nichts, das ihre Umgebung für sie war, verloren. Es gab nur noch die nächste Biegung, den nächsten sicheren Ort, an dem sie sich eingestehen konnte, wieder jemanden verwirrt zu haben.
Erst, als Kiara spürte, wie ihre Beine drohten, nachzugeben, kam sie taumelnd zum Stehen. Ihr Herz raste und sie japste nach Luft, während sie sich mit dem Rücken gegen eine der Mauern lehnte und spürte, wie die Steine sich in ihren Rücken bohrten. Sie sog einige Male tief die Luft ein, ehe sie einen Blick in die Richtung warf, aus der sie gekommen war. Nichts und niemand war zu sehen, nicht einmal die räudigen Straßenkater, die hin und wieder ihren Weg kreuzten.
Erleichtert seufzte sie auf und ließ sich zu Boden sinken. Mit vor Freude zitternden Fingern strich sie sich ein paar der kastanienbraunen Haarsträhnen aus den Augen, bevor sie das Scharnier aufdrückte, das die Geldbörse verschlossen hielt. Mit einem befriedigenden Klicken öffnete sie sich und offenbarte ihr fünf große, preußische Scheine. Kiara schnappte nach Luft, was dieses Mal nicht daran lag, dass sie zu schnell gerannt war. Langsam zählte sie die Werte zusammen, so wie ihre Großmutter es ihr vor zehn Jahren beigebracht hatte. Das war mehr Geld als sie jemals in ihrem Haus gehabt hatten. Als normaler Bürger war es beinahe unmöglich, an diese Menge heranzukommen.
Kiara gab sich Mühe, nicht zu jauchzen, während sie das Geld in ihrem Beutel verschwinden ließ. Das Papier knisterte angenehm unter ihren Fingern, fühlte sich anders an als das, auf dem sie bei Fräulein Krysia Gedichte abschrieben. Als sie alles sicher verstaut hatte, stand sie auf und schob ihre Kleider wieder zurecht, um möglichst normal auszusehen. Erst, als sie sich sicher war, dass sie niemand mehr verdächtigen würde, etwas Derartiges wie Diebstahl zu begehen, ging sie weiter. Vor lauter Übermut warf sie den Beutel noch einmal kurz in die Luft und fing ihn mit der anderen Hand wieder auf, bevor sie ihn an ihrer Hüfte festband.
Am liebsten hätte sie auch die Geldbörse verkauft, aber sie konnte sich nicht sicher sein, ob darauf nicht ein Pfand ausgesetzt werden würde und wollte nicht erwischt werden. So seufzte sie und verbuddelte sie auf dem Weg in einem Blumentopf. Hoffentlich würde erstmal keiner dort suchen und falls doch, würde man sie bestimmt seinem Besitzer zurückbringen. Auch, wenn Kiara nicht glaubte, dass ein Mann mit so viel Geld sich nichts Neues leisten konnte.
Es dauerte ein wenig, bis Kiara sich wieder zurechtfand, doch dann hatte sie schnell ihre vertrauten Gassen gefunden und machte sich hastig daran, zur Verteilungsstelle zu kommen. Sie wusste ganz genau, wenn sie jetzt auch noch zu spät kam, würde sie die nächsten drei Tage nicht mehr ihr Zimmer verlassen dürfen.
Auf dem kleineren Platz angekommen reihte sie sich in die Schlange von Kindern ein, die meisten waren jünger als sie oder im gleichen Alter, und wartete ungeduldig darauf, endlich an der Reihe zu sein. Der altmodische Stand, an dem die Bewohner des Heims tagtäglich auf eine warme Mahlzeit hofften, wurde wie so oft von allen Seiten misstrauisch betrachtet. Die Stadtverwaltung hatte diese Unterstützung nur zugelassen, damit sie nicht für die Verpflegung aufkommen musste, das wusste Kiara, seit sie vor einigen Wochen ein Gespräch zwischen dem Heimleiter und Fräulein Krysia belauscht hatte. Deswegen stand auch immer ein Mitglied der Wache am Rande des Platzes und beobachtete alles mit Argusaugen.
Unauffällig zog Kiara die Kappe von ihrem Haar und zog ihr Oberteil gerade. Erst jetzt fiel ihr auf, dass wieder einmal Soßenflecken und Schlammspitzer an den mehrfach gekrempelten Ärmeln und um ihren Kragen herum verteilt waren. Sie unterdrückte einen Fluch und hoffte inständig, dass heute nicht Fräulein Agnieszka bei der Verteilung stand. Die griesgrämige, ältere Dame hatte die schreckliche Angewohnheit, Kinder mit dreckigen Klamotten anzumaulen und ihnen weniger Essen auf die Teller zu schaufeln. Fräulein Krysia war zwar streng, aber wenigstens nicht ungerecht.
Kiara reckte den Hals und stellte sich auf die Zehenspitzen, um an den größeren Jungen weiter vorne vorbeisehen und einen Blick auf die Theke werfen zu können, scheiterte jedoch kläglich. Mit einem Seufzen zog sie die Schultern nach oben und versuchte, die Schmutzflecken mit Spucke zu säubern. Sie war so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie erst merkte, dass die Reihe nach vorne gerückt war, als ein etwa siebenjähriges Mädchen mit blonden Zöpfen und einer großen Zahnlücke sie von hinten antippte. Hastig murmelte Kiara eine Entschuldigung und schloss wieder zum Rest auf. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, in der ihr Magen immer wieder fordernd knurrte, bis sie endlich ganz vorne in der Reihe stand.
Sie hatte Pech. Vor Kiara stand, den Hut mit einer altrosafarbenen Schleife unter dem Kinn zurechtgezurrt und Adleraugen, Fräulein Agnieszka und starrte sie verbittert an. »Name?«, brummte sie barsch, während sie Kiaras fleckiges Hemd und den staubigen Rock inspizierte.
»Wilk Kiara«, gab diese niedergeschlagen zurück und beschloss, sich damit abzufinden, heute eine kleine Portion zu verdrücken. Vielleicht hatte sie ja Glück und konnte dann umso schneller verschwinden.
»Bescheinigung?«
Kiara zog einen zerfledderten, an einigen Stelle bereits eingerissenen Zettel aus ihrer Brusttasche und hielt ihn der Alten hin. Sie kniff die Augen zusammen und ging so nah an Kiara Hand heran, dass sie den fischigen Atem der Frau riechen konnte. Sie versuchte, nicht zu husten und hielt tapfer die Luft an.
Kiara wusste wie die meisten der Kinder, dass Fräulein Agnieszka ohne ihre Brille kaum die Turmuhren entziffern konnte, seltsamerweise gelang es ihr jedoch, jede Art von gefälschter Bescheinigung innerhalb von Sekunden als solche zu erkennen und den Betrüger zu identifizieren. Umso erleichterter war sie, dass sie zumindest in diesem Fall nicht vergesslich war.
Allerdings gab es noch etwas anderes, das sie beunruhigte. Das Geld in ihrem Beutel, der bei jeder Bewegung gegen ihre Seite schlug, machte sie nervös. Obwohl die Scheine weitaus weniger Lärm machten als Münzen, spürte Kiara, wie ihr Herz schneller raste, als würde sie wieder vor etwas fliehen, es pochte ihr bis zum Hals und ließ das Blut in ihren Ohren rauschen. Sie schluckte und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, während die Sekunden sich wie Honig zogen.
Fräulein Agnieszka schnaubte leise und nickte widerwillig. »Gut. Wasch in Zukunft öfter, Mädchen.« Sie drückte Kiara die metallene Schale mit wässriger Suppe und eine Scheibe Brot in die Hand, ehe sie sich mit angeekeltem Blick wieder der Schlange zuwandte und »Nächster!«, rief.
Kiara amtete unwillkürlich erleichtert und verzog sich an einen der kleinen Tische, die hier aufgestellt worden waren, damit die Kinder nicht mit dem Essen herumrannten und es womöglich fallenließen. Wenigstens war sie dieses Mal davongekommen, ohne sich einen Vortrag darüber anhören zu müssen, keine Dame zu sein. Leute wie Fräulein Agnieszka waren es, die Kiara wirklich wütend machten. Sie hatten einmal in der Woche einen Waschtag für das gesamte Heim von fünfundzwanzig Kindern und konnten es sich nicht leisten, jeden Tag ein anderes Oberteil zu tragen.
Am liebsten hätte sie der alten Schreckschraube laut und deutlich die Meinung gesagt, doch Kiara wusste ganz genau, was ihre Großmutter und die Heimarbeiter dazu sagen würden. Sie sollte gefälligst mehr Respekt vor denen haben, die ihre Zeit und Geduld für sie opferten und sich Mühe gaben, ihr und den anderen Heimkindern ein normales Leben zu bescheren. Fräulein Agnieszka würde sie hämisch anlächeln und ihr den Kopf tätscheln, wie bei einem Welpen. Sie versteht das alles bloß noch nicht, würde sie sagen. Kleines, dummes Mädchen. Irgendwann, wenn du älter bist, wirst du uns dankbar sein.
Unwillkürlich umfasst sie den Griff ihres Löffels fester und ballte den Stoff ihres Rockes zu einem Knäul zusammen, um ihrer Wut nicht offen Luft zu machen. Um sich abzulenken, beobachtete sie eine Gruppe von Zehnjährigen, die einer klotzigen Spielzeugeisenbahn aus grobem Holz hinterherrannten und lachten. Vielleicht hatte einer von ihnen es mitgebracht, als er ins Heim gekommen war, oder eine großzügige Person hatte sie ihnen zugesteckt. Egal, was es war, sie war sicherlich nicht für den Verkauf angefertigt worden.
Kiara seufzte leise und tunkte ihr Brot in die Suppe. Sie schmeckte großteils nach Wasser und war nur noch lauwarm, aber immerhin etwas. Das sollte ihren vorlauten Bauch vorerst ein wenig beruhigen. Als sie noch jünger gewesen war, hatte es an Tagen wie heute, den ersten warmen Tagen des Jahres, immer Kartoffelpuffer gegeben, die sie meistens mit viel zu viel gemahlenem Zucker bestreut hatte und dann nur noch süß geschmeckt hatten.
Über die Jahre hatte Kiara eine gewisse Abneigung gegen süßere Mahlzeiten entwickelt, vielleicht, um sich einzureden, dass auch die Gerichte, die sie jetzt aß, nicht schlecht waren. Dennoch musste sie zugeben, dass der Gedanke an ihr früheres Lieblingsessen sie mit Wärme erfüllte. Für einen Augenblick konnte sie sich vorstellen, anstatt Suppe und Brot den altbekannten Zuckergeschmack im Mund zu haben.
Ehe sie es sich versah, hatte sie das Brot verputzt und die übriggebliebene Suppe ausgelöffelt. Überrascht sah sie sich um und musste feststellen, dass sie wohl so sehr in Gedanken versunken gewesen, war, dass sie nicht bemerkt hatte, wie die, die neben ihr gesessen hatten, ihre Mahlzeit beendet und zu ihren Freunden verschwunden waren.
Einige Sekunden lang war sie wie hypnotisiert von dem Anblick der kleinen Freundesgruppe, die miteinander lachten und sich zusammen auf den Weg zurück in das alte Fachwerkgebäude, das man ihr Zuhause nannte, machten. Dann senkte sie schnell den Blick und starrte stattdessen in die Tiefen ihrer leeren Schale.
In den fünf Jahren, die Kiara schon im Heim lebte, hatte sie für sich beschlossen, keine Freunde zu haben. Nicht, weil sie die anderen Kinder nicht leiden konnte, nicht, weil sie sich wie eine Außenseiterin vorkam, nein. Im ersten Jahr hatte sie sich recht gut mit den Mädchen verstanden, deren Betten direkt neben ihrem standen, doch als sie damit begonnen hatte, wöchentlich zur Diebin zu werden und die Regeln zu brechen, hatte sie niemanden mehr einweihen wollen. Jemand anderes konnte nichts dafür, wenn sie sich schlecht benahm, und sie kannte die Regeln des Heims nur zu gut. Wenn jemand von rechtswidrigen Taten wusste und sie nicht beichtete, wurde die Person nicht weniger hart bestraft als der Übeltäter. Nein, Kiara wollte nicht, dass jemand für sie ein solches Risiko einging, erst recht nicht, wenn er nichts falsch gemacht hatte.
Dennoch musste sie zugeben, dass sie die Vorstellung, enge Freunde zu haben, vermisste und die Kinder beneidete, die sich einfach an die Regeln halten konnten, die nie eine Vorschrift missachteten und die Augen vor dem verschlossen, was andere taten, um ihr eigenes Leben in Frieden zu führen. Sie wünschte sich an manchen Tagen, das auch zu können.
Als die Turmuhr zur halben Stunde schlug, fuhr sie zusammen und sprang auf. In ihren Grübeleien hatte sie glatt die Zeit vergessen. Wenn sie sich jetzt nicht beeilte, würde ihr Diebstahl umsonst gewesen sein, denn sie würde nicht mehr rechtzeitig nach Hause kommen können. Eilig griff sie sich ihr Geschirr, trug es zum Stand zurück und stellte es neben dem mannshohen Stapel ab, der bereits gefährlich schwankte, und machte sich auf den Weg in die Richtung, die entgegengesetzt zu der war, die ihre Mitbewohner beschritten hatten.
Kaum vom Markt verschwunden, rollte sie ihren langen Zopf wieder zusammen und schob ihn sich unter die Kappe, um nicht aufzufallen. Gerade wenn die Sonne aus den Gassen verschwand und sich ins Meer zurückzog, wollte man nicht sofort als junges Mädchen erkannt werden, wenigstens nicht auf den ersten Blick. Kiara legte die Finger auf den Beutel und legte einen Zahn zu. Gleichzeitig versuchte sie, so leise wie möglich aufzutreten, was mit den Schnürschuhen, die sie das ganze Jahr über trug, nicht so einfach war, wie sie sich es gewünscht hätte. Das Leder war an vielen Stellen verblichen, die Schnüre, mit denen die einzelnen Elemente zusammengenäht waren, lockerten sich, seit sie sie zum ersten Mal angezogen hatte, und die Sohle war an ihren Fersen schon gefährlich dünn, was es schwerer machte, auf jeden Schritt zu achten.
Wenige Minuten später konnte Kiara es bereits hören. Die Wellen, die gegen den Sand schlugen, sanft und doch unaufhörlich. Das Rauschen des Meeres, der wunderschöne Klang, der sie als kleines Mädchen in den Schlaf gesungen hatte, wann immer sie im Dunkeln gelegen und mit aufgerissenen Augen an die Holzdecke starrte, wann immer sie dem Prasseln von Regen und dem stetigen Tropfen neben ihrem Ohr lauschte.
Direkt neben Kiaras Bett hatte immer eine Schüssel gestanden, die an schlechten Tagen bis zum Rand mit Regenwasser volllief. An diesen Tagen hatte das Loch im Dach sich weiter vergrößert. Kiara war damals noch zu jung gewesen, als dass ihre Großmutter ihr erlaubt hätte, nach oben zu klettern und das Leck zu flicken, so hatte sie das Wasser am nächsten Tag zum Waschen verwendet.
Als sie um die nächste Ecke bog, stand Kiara am Rand der Stadt, trat endlich hinaus aus dem noch immer schattigen Irrgarten aus Gassen und verwinkelten Wegen. Sie blieb einen Augenblick stehen und atmete die frische Luft ein, die von der Küste zu ihr wehte, dann eilte sie die Straße entlang, auf das verfallene kleine Haus in der Mitte der Rejstraße, das kaum breiter war als sie hoch, zu.
Die Grundfesten der Hütte waren aus solidem Stein gebaut, doch die Wände bestanden aus Holz und verblichenem, böckelndem Putz. Kiara erinnerte sich gut daran, dass ihre Großmutter immer gesagt hatte, das Haus hätte einmal zu einem großen Anwesen gehört und ihr Spukgeschichten über die längst verstorbenen Hausherren erzählt, die nachts durch die Schatten wanderten und den letzten Rest ihrer verbliebenen Festung beschützen wollten. Manchmal, wenn sie nachts im Heim nicht schlafen konnte und nur das Atmen der anderen Mädchen und das regelmäßige Knarren der Wände und Betten sie wachhielt, flüsterte sie sich selbst diese Märchen zu, um sich zur Ruhe zu bringen und wieder an die Zeit zu erinnern, in der sie keine Angst haben musste.
Wieder einmal seufzte Kiara leise, ehe sie die Tür aufstieß. Doch in genau diesem Moment hielt sie irritiert inne. Ihre Begrüßung blieb ihr im Halse stecken. Die Türangel quietschte nicht. Sie hatte schon immer geknarrt und gestöhnt, egal, wie minimal der Spalt war. Wenn man die Tür bewegte, hatte die Angel dies dem gesamten Haus verkündet. Doch nun gab sie keinen Ton von sich und als Kiara den Kopf durch die schmale Öffnung steckte, konnte sie einen Blick auf das blitzende, wie neu geschmiedete Türscharnier werfen.
Misstrauen breite sich in ihr aus. Auf Zehenspitzen schlich sie sich in den Flur, der gleichzeitig auch als Wohnraum diente, in dem ihre Großmutter schlief, seit sie einen schlimmen Rücken hatte, vorbei an der steilen Wendeltreppe, auf die nur angelehnte Küchentür zu.
Aus dem Raum vor ihr drangen Stimmen. Die eine erkannte sie zu gut, sie war rau und leise, wie Papier. Sie gehörte ihrer Großmutter, doch anders als sonst klang sie, als sei sie in heller Aufregung, sprach schnell und erstickt. Die zweite, die sie immer mal wieder mit kleinen Einwürfen unterbrach, war dunkler und doch eindeutig jünger, ruhig und gemächlich. Der, zu dem sie gehörte, musste wirklich alle Zeit der Welt haben.
Kiara zögerte einen Augenblick, fragte sich, ob sie lieber die Treppe hinaufschleichen und oben darauf warten sollte, bis der Besuch ihrer Großmutter wieder verschwand, Normalerweise kam niemand hierher, erst recht nicht, wenn die Sperrstunde nicht mehr weit war. Und wenn ihre Annahmen zu dem Fremden stimmten, ergab das alles noch weniger Sinn.
Sie gab sich einen Ruck und trat lautlos näher an die Tür heran. In dem Holz gab es jede Menge Astlöcher, die ihr früher wie auch jetzt eine große Hilfe waren. Kiara ging in die Hocke und spähte durch das Loch hindurch in die Küche.
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Tänzerin der Schatten
FantasyEtwas bewegte sich in der Dunkelheit. Sie holte zitternd Atem. Ihr ganzes Leben lang hatte Kiara gesehen, wie Leute die Nacht und ihre Schecken fürchteten. Sie musste zugeben, für sie war die Nacht nichts gewesen, das ihr Angst machte. Im Gegenteil...