Kiaras Verwirrung über das Gespräch mit der Prophetin von Panna wurde erst übertrumpft, als sie die Frau mit dem schwarzen Brautschleier sah.
Sie hatte Sarins Zimmer so schnell wie möglich verlassen und musste für die Gäste des Wirtshauses wie auf der Flucht ausgesehen haben. Im Schankraum war es noch immer laut, jedoch spärlicher besetzt. Kiara tippte darauf, dass diejenigen, die keine Unterkunft mehr bekommen hatten, die Schenke verlassen hatten, um einen möglichst windgeschützten Platz auf der Straße zu finden.
Wieder kochte in ihr Zorn hoch und sie musste die Fingernägel in die Handballen pressen, bis sich rote Halbmonde auf ihrer Haut ausbreiteten, um sich nicht spontan auf die Suche nach Lady Nosek zu machen und ihr die Meinung zu geigen.
Doch trotz der weniger gefüllten Reihen blieb es stickig im Raum. Die Luft war schwer, geschwängert von Rauch und dem scharfen Geruch nach Alkohol und Kräutern. Nun, wo sie sich nicht mehr bei jedem Schritt darauf besinnen musste, niemandem in den Weg zu treten, konnte Kiara die Verblieben – allesamt an einem grünen Kleidungsstück erkennbar – inspizieren.
Die meisten von ihnen waren schwer verletzt. Eine hübsche Kellnerin mit silbrig blondem Haar verband einem wimmernden Mann gerade den Armstumpf, während ein Junge in Kiaras Alter seine verbliebene Hand drückte und versuchte, ihm etwas zu Trinken einzuflößen. Einen Tisch weiter weinte ein Kind in den Armen seiner Mutter, während sie seine Stirnwunde verarztete. Eine Bank wurde von einer Frau belegt, die sich ganz und gar ausgestreckt hatte und von ihrer Nachbarin ein feuchtes Tuch auf die Stirn gedrückt bekam. Sonderlich viele alte Menschen sah sie nicht mehr und auch die meisten Kinder waren nicht jünger als sechs.
Das Schlimmste war wohl die Leere in den Augen der Geflohenen. Sie alle hatten einen hoffnungslosen, starren Blick, den sie in die Ferne richteten, ohne viel von ihrer Umgebung zu erfassen. Die Jüngeren unter ihnen waren nicht so stark betroffen, sie weinten hauptsächlich oder hatten sich angstvoll an ihre Eltern gedrückt. Die jedoch sahen geradeaus und rührten sich kaum.
So, dachte Kiara gequält, musste man aussehen, wenn man den Tod gesehen hatte.
Diese Menschen hatten alles verloren, was sie hatten. Ihre Heimat, ihre Besitztümer, ihre Arbeit und ihre Familie. Sie waren vor der Finsternis geflohen, doch wussten sie, dass sie sie einholen würde. Jederzeit könnte sich ein Schatten aus einer der dunklen Ecken schälen und sie alle zu Dienern des Schattenkönigs machen. Sie hatten zurückgelassen, was sie nicht tragen konnten, hatten einen grauenvollen Verlust erlitten. Für nichts und wieder nichts.
Kiara schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. Ganz von selbst war sie stehengeblieben, musterte die Menschen noch einmal. Einige fingen ihren Blick auf, wandten sich jedoch schnell wieder ab.
Selbst, wenn die Hälfte von ihnen wieder gesund würde, konnten sie nicht für immer in Rys bleiben, so viel war klar. Kiara ahnte, dass es nicht möglich war, Panna wieder zu besiedeln, solange der Schattenkönig regierte. Wahrscheinlich würde der Orden einige, einschließlich der Prophetin nach Królport mitnehmen, doch auch diese Reise konnten unmöglich alle überleben, von dem Schock, der sie alle belasten musste, mal ganz abgesehen.
Gerade als sie einen Schritt auf die kleine Sitzgruppe um die liegende Frau zumachen und fragen wollte, ob sie helfen konnte, schwang die Eingangstür auf und zwei ihr bekannte Personen traten in die Wirtschaft ein.
Miss Wrona, auf die Kiara vorhin gefallen war, erkannte sie sofort. Bei Fynn brauchte sie zwei Sekunden, ehe sie verstand, wer da unter dem zerschundenen, von Staub und Dreck bedeckten Mantel steckte. Er nahm die Kapuze ab und schüttelte sich Schmutz aus den dunklen Haaren. Knapp nickte er seiner leicht pikiert dreinblickenden Begleitung zu, dann entdeckte er Kiara und seine Gesichtszüge entgleisten ihm für einen Moment.
»Moment«, murmelte er und eilte auf sie zu. Seine Finger schlossen sich um ihre Oberarme und er musterte sie so akribisch, dass Kiara sich wieder ein Stockwerk nach oben versetzt fühlte und Unwohlsein in ihr aufstieg. Über seine Schulter sah sie, wie Miss Wrona die Augen verdrehte und sich zu den Verwundeten am nächsten Tisch gesellte.
»Äh?«, machte sie dann und entwand sich behutsam Fynns Griff. »Alles in Ordnung bei dir? Du schaust so entsetzt.«
Er schnaubte leise und schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. »Du fragst mich, bei mir alles in Ordnung ist, Kiara? Wo bei Jantar hast du gesteckt?« Er wischte sich mit dem Umhang über die verschwitzte Stirn und hinterließ weitere Dreckspuren in seinem Gesicht. »Ich habe dich verdammt nochmal in der ganzen Bibliothek und Rys gesucht! Wäre Danika nicht zufällig vorbeigekommen und hätte mir erzählt, was passiert ist, wäre ich vermutlich verrückt geworden! Was zum Geier hast du gemacht?«
Kiara klappte den Mund einige Male auf und wieder zu, versuchte, ihn zu unterbrechen, scheiterte allerdings kläglich. So viel am Stück hatte sie ihn noch nie reden gehört, zumindest nicht in einem halbwegs emotionalen Tonfall. Dann kam ein Teil der Informationen bei ihr an und sie blinzelte. »Ihr kennt euch?«, war das Erste, was sie zustande brachte.
»Flüchtig.« Fynn rollte mit den Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das tut jetzt nichts zu Sache. Ich wiederhole mich nur einmal: Was hast du angestellt?«
Kiara seufzte leise und kaute auf ihren Fingernägeln herum. Mit der anderen Hand hielt sie das Buch fest umklammert. Das warme, dunkle Leder kam ihr wie ein Anker in tosender See vor. »Wenn ich das wüsste, würde ich es dir sagen. Aber wie siehst du überhaupt aus? Bist du spontan in einen Sumpf gesprungen?«
Er verzog keine Miene und strich sich eine gekräuselte Strähne aus den Augen. Eine Sekunde lang sah er aus, als dächte er darüber nach, einfach nicht mehr mit ihr zu reden, doch dann seufzte er laut. »Ich erzähle es dir gleich, aber würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mir vorher was bestelle? Ich habe seit heute Nachmittag nichts mehr getrunken.«
Erst in diesem Moment fiel Kiara auf, dass sie den gesamten Tag nichts gegessen hatte und seit den Schlucken aus dem Bach auf der Lichtung generell gar nichts zu sich genommen hatte. Plötzlich ergaben ihre trockene Kehle und ihr schmerzender Magen Sinn. Dementsprechend hastig schüttelte sie den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Mir ... mir geht es ja ähnlich.«
»Na dann«, sagte Fynn und drängte sich an ihr vorbei zur Theke.
Kiara stand recht bedröppelt da und sah unwillkürlich zu Miss Wrona – nein, Danika Wrona – hinüber. Die aber würdigte sie nicht eines Blickes, sondern beschäftigte sich damit, im Licht einer nahestehenden Kerze die hässliche Fleischwunde am Bein des Mannes neben ihr zu säubern. Es musste wohl ziemlich wehtun, denn während der Mann jaulte und zitterte, mussten ihn gleich zwei Frauen in smaragdgrünen Roben festhalten. Beruhigend redete sie auf ihn ein und arbeitete so schnell, dass ein beinahe hypnotisierend gewesen wäre, ihr zuzusehen, wäre der Anblick nicht so scheußlich gewesen.
Seltsam. Die junge Frau, die ihr im Turm begegnet war, hatte auf sie eher wie eine verwöhnte Bürgerstochter gewirkt, nicht nach jemandem, der sich mit Hingabe um andere sorgte. Dabei hatte sie sonst eine hervorragende Menschenkenntnis und konnte sich darauf verlassen, ihre Umgebung bestens zu durchschauen. Zumindest war sie davon stets ausgegangen.
»Kiara, kommst du?«, rief Fynn über die Klagen hinweg. Er saß auf einem der höheren Barhocker, vor ihm standen zwei Teller mit Suppe und hölzerne Krüge. Obwohl ihr noch ein wenig übel von dem in der Luft hängenden Blutgeruch war, knurrte Kiaras Magen derartig laut, dass ihr keine andere Wahl blieb als sich zu ihm zu gesellen.
Die Suppe war kalt und die darin schwimmenden Fleischfetzen faserig, doch ganz ähnlich wie Fynn schaufelte Kiara sie in sich hinein als gäbe es nichts Besseres auf Erden. Sie trank einen großen Schluck Wasser und stillte gierig ihren ersten Hunger, bevor sie den Kopf wieder hob, sich mit dem Hemdsärmel über den Mund wischte und Fynn abwartend anblickte.
»Also?«, fragte sie, die Beine übereinanderschlagend. »Wieso bist du ein wandelnder Komposthaufen?«
Erneut rollte er mit den Augen und schluckte mit einiger Mühe herunter. Vermutlich war ihm aufgefallen, wie lächerlich es aussehen musste, wenn er den Mund voll hatte. »Hast du es dir eigentlich zur Lebensaufgabe gemacht, meine Nerven zu strapazieren?«
»Vielleicht. Sag schon.«
»Ich habe mich eben darum gekümmert, dass die Schatten nicht zu nah an Rys herankommen«, sagte er, die Schultern hebend. »Du weißt schon, Laternen und Fackeln an den Mauern verteilen, die Ordensmitglieder einteilen, Lichtgräben vorbereiten. All das eben.«
Kiara, die für den heutigen Tag eindeutig schon genug verwirrende Sachen erklärt bekommen hatte, beschloss, nicht zu hinterfragen, was Lichtgräben sein sollten. »Und dabei bist du in einen Haufen Dreck gefallen?«
»Nein!«, fauchte Fynn und aß weiter. »Aber ich habe zufällig auf einen ziemlich langen Ritt hinter mir gehabt, zweimal wie ein Irrer nach dir gesucht und den Leuten geholfen, die im Lazarett liegen.« Seine Augen schweifen über seine Schulter und blickte vielsagend zu den Verletzten um sie herum. Der Zorn in seinem Gesicht verschwand und wich Erschöpfung. »Dabei wird man eben schmutzig.«
Ein dumpfes Gefühl von Schuld breitete sich in Kiaras Brust aus und sie senkte beschämt den Kopf. »Daran hätte ich denken müssen.« Immerhin hatte er ihr an diesem Morgen noch gesagt, dass er deshalb mit nach Rys wollte. »Tut mir leid.«
Fynn seufzte und rieb sich die Stirn. »Schon gut. Das ist gerade sowieso nicht wichtig.« Er sah wieder zu Kiara und fixierte sie – abermals so akribisch. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich ihre Mütze zurück, die sie am Strand verloren hatte. So konnte sie lediglich ihren Kragen höher schlagen und die Schultern nach oben ziehen.
»Ich bin übrigens nicht verletzt. Du musst mich nicht mit deinen Augen durchleuchten.« Nicht stärker als sie es schon bei ihrer Ankunft gewesen war, jedenfalls. Blaue Flecken bezog sie bei dieser Aussage nicht mit ein, denn davon hatte sie ohnehin mehr als genug.
»Als ich sie vorhin kurz getroffen habe, hat Iskra gesagt, du wüsstest inzwischen Bescheid.«
»Bescheid wissen ist schätze ich recht übertrieben gesagt. Falls du meinst, dass sie nicht meine Großmutter ist, ja. Das weiß ich jetzt.« Mit einem Mal erschienen ihr die Muster auf dem Suppenteller sehr viel interessanter als Fynns Gesicht. »Aber das war es dann auch so ziemlich.« Sie zögerte einen Moment, kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Ich war vorhin oben, bei ...«
»Bei der Prophetin«, beendete Fynn ihren Satz und neigte den Kopf minimal. »Danika hat es mir erzählt.« Ein paar Sekunden lang schwieg er. »Ich habe sie noch nie getroffen, aber ich tippe mal darauf, dass ein Gespräch mit ihr nicht sonderlich aufschlussreich war?«
»Ich habe fast kein Wort von ihr verstanden und ihre sogenannten Hilfestellungen bringen mich kein Stück weiter.« Nach einem langen Schluck, mit dem sie hoffte, den bitteren Geschmack, den die Worte in ihrem Mund hinterlassen hatten, loszuwerden, sprach sie weiter. »Ich habe sie gefragt, wie das alles mit mir zusammenhängen soll.«
»Natürlich hast du das.«
Nun sah Kiara doch wieder auf.
Fynns Miene blieb undurchdringlich, doch sie kam ihr seltsamerweise weniger abweisend vor als sie es noch am gestrigen Tag gewesen war. Vielleicht lag es daran, dass er nicht länger aussah wie ein aus der Zeit gefallenes Portrait. Der Dreck auf seinen Wagen und seinem Haar, die Erschöpfung in seinem Gesicht, die dunklen Ringe unter seinen Augen, das alles ließ ihn menschlicher wirken. Seine Finger tippten unentwegt gegen den Tellerrand und produzierten ein leises Klirren, das andere vermutlich in den Wahnsinn getrieben hätte. Kiara allerdings war dankbar für die Konstante, die Regelmäßigkeit darin. Wenigstens war sie nicht die Einzige, die nicht stillhalten konnte.
Als sie nichts erwiderte, legte Fynn minimal die Stirn in Falten, ehe er langsam weitersprach. »Wäre ich an deiner Stelle, würde ich mich das auch fragen. Wahrscheinlich würde das jeder. Und? Was hat sie dir gesagt?«
»Irgendwas von Blut und schrecklichen Dingen, die meine Familie getan hat und die ich wohl wieder geradebiegen muss. Iskra hatte gesagt, dass die meistens nur Firlefanz erzählt, aber das«, sie schnaubte laut und schüttelte den Kopf, »das hatte ich nicht erwartet. Ich dachte, sie könnte mir irgendwie weiterhelfen.«
Langsam nickte er und richtete die Augen wieder auf seinen leeren Teller. »Das denken die meisten. Meine Mutter hat mir immer erzählt, dass es die Aufgabe der Tempelschwestern war, ihre Worte zu entschlüsseln. Ohne sie wirst du vermutlich nicht sonderlich viel herausfinden, schätze ich.«
»Großartig.« Kiara brummte und lehnte die Stirn gegen die Tischplatte. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht auf der Stelle einzuschlafen. »Das heißt, es war alles umsonst? Ich weiß noch immer rein gar nichts?«
»Vielleicht nicht alles. Wer weiß, inwiefern euer Gespräch deine zukünftigen Entscheidungen ...«
Kiara stöhnte laut auf und schlug den Kopf auf das Holz. »Komm mir bloß nicht damit!«, flehte sie. »Davon habe ich heute wirklich mehr als genug gehört. Lass uns bitte das Thema wechseln.« Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Fynn sie voller Verdatterung anstarrte, als wüsste er nicht, ob er sie davon abhalten sollte, weiterzumachen. »Wann reisen wir zurück nach Królport?«
»Oh äh ... der General spricht deswegen noch mit der Bürgermeisterin. Vermutlich bleiben wir noch mindestens zwei Tage, um die Verteidigungen zu stärken und die Leute reisebereit zu machen. Apropos«, er legte ein paar sechseckige Münzen auf den Tresen und stand auf, »wir sollten langsam los. Wir haben dir im Quartier ein Bett freigehalten und morgen müssen wir alle früh raus. Kommst du?«
Sie hob den Kopf und sah über ihre Schulter zu den restlichen Gästen.
Danika Wrona hatte sich mit zitternden Fingern an ein Tischbein gelehnt und trank aus einem Glas, das eine der smaragdgrün gekleideten Frauen ihr gereicht hatte. Ihr Hut lag neben ihr und ihre braunen Locken hatten sich aus der eleganten Hochsteckfrisur gelöst. Blut und Schleim hafteten an ihrem Rocksaum, doch der verletzte Mann war verstummt und verbunden.
Der Junge, der zuvor dem Mann mit nur einem Arm geholfen hatte, sammelte nun die leeren Becher ein und hatte den Blick starr auf seine Füße gerichtet. Sein vorheriger Patient hatte die Augen geschlossen, wenngleich seine Atmung zu unregelmäßig ging, als dass er schliefe.
Das Kind auf dem Schoß seiner Mutter war eingeschlafen und sie unterhielt sich flüsternd mit einer der Kellnerinnen. Auf ihren Wangen glitzerten Tränen.
Noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, rutschten die Worte einfach aus ihrem Mund. »Können wir ihnen nicht noch irgendwie helfen?« Im nächsten Moment schon ahnte sie, dass sie keine zufriedenstellende Antwort bekommen würde. Und ganz richtig, Fynn wandte sich wieder zu ihr um und verzog das Gesicht. Nicht, weil ihn die Vorstellung anwiderte, nein, weil er selbst unglücklich darüber war.
»Kiara«, sagte er so müde, dass es wie eine Bitte klang, »komm. Wir können nichts tun, wenn wir jederzeit einschlafen könnten.«
DU LIEST GERADE
Tänzerin der Schatten
FantasíaEtwas bewegte sich in der Dunkelheit. Sie holte zitternd Atem. Ihr ganzes Leben lang hatte Kiara gesehen, wie Leute die Nacht und ihre Schecken fürchteten. Sie musste zugeben, für sie war die Nacht nichts gewesen, das ihr Angst machte. Im Gegenteil...