Die Prophetin von Panna

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Für einige Sekunden, in denen Kiaras Herz so schnell raste, dass sie befürchtete, umzukippen, und ihr Atem so flach und schnell ging, als hätte sie soeben einen Sprint durchstanden, passierte rein gar nichts. Ob sie sich in der Tür geirrt hatte? Hatte die Wirtin wirklich links gesagt und nicht rechts? War sie überhaupt die richtige Treppe hinaufgestiegen oder hatte sie eine übersehen?
»Herein.« Die Stimme, die dumpf aus dem Raum hinter der Tür kam, war dünn, doch gleichzeitig klar vernehmbar.
Als Kiara den altmodischen, mit Blumenmustern verzierten Knauf drehte und die Tür beinahe lautlos aufschwang, gab sie den Blick auf ein schlichtes Zimmer frei. Ein Kleiderschrank, ein Teppich mit einem runden Tisch und einem Sessel darauf, ein Bett. Mehr befand sich nicht darin, dennoch hätte es Kiara gereicht. Sie war mir weniger aufgewachsen und wäre nur zu gerne auf der weichen Matratze eingeschlafen.
Vor einem Fenster, durch das die Sonne ihre abendroten Strahlen schickte, stand eine winzige, in sich zusammengekrümmte Gestalt, die sich umdrehte, als Kiara einen langsamen Schritt in den Raum machte. Ohne sie je zuvor gesehen zu haben, wusste sie, dass es sich bei dieser unscheinbaren, uralten Frau um die Prophetin handeln musste.
Ihre Haut war so dunkel wie die Schale eine Haselnuss und von einem Faltengebirge durchzogen. Ihr Gesicht war so furchig und alt, dass Kiara sich wunderte, wie diese Frau noch ohne Hilfe stehen konnte. Sie war kleiner als Kiara, ging ihr höchstens bis zur Schulter. Ein langer, silberner Flechtzopf schlängelte sich ihre Schulter herunter bis zu ihrer Hüfte. Die fichtengrünen Gewänder der Prophetin waren so wenig einer Epoche zuordbar wie der Rest ihres Antlitzes.
Sie waren bodenlang und verteilten sich in langen Schleppen um sie herum. Die weiten Ärmel kamen Kiara zu warm für den Sommer in Rys vor, dünne Tücher in blasseren Grüntönen lagen in Schichten über ihrem Rock. Ein weißes Unterhemd spitzte auf Höhe ihres faltigen Halses durch den Stoff und verhinderten jeglichen Blick auf ihre Schlüsselbeine. Als sie sich bewegte, einen Schritt auf Kiara zumachte, klimperten hunderte von Amuletten und Armreifen, die gegeneinanderstießen. Auch ihr Schmuck passte nicht zusammen. Sie trug Halsbänder mit aufwendigen Dekorationen ebenso wie schlichte Lederbänder, an denen ein einziger Anhänger, manchmal nur ein gewöhnlicher Stein, hing.
Während dem Gehen stützte sie sich auf einen Stab, den Kiara noch nicht bemerkt hatte, als sie sie von hinten gesehen hatte. Er war hölzern und mit einem filigranen Kunstwerk aus Bronzefäden, Smaragden und einem perfekt runden Bernstein gekrönt.
Wieder erhob die Prophetin ihre Ruhe ausstrahlende, aber dennoch entschlossen klingende Stimme. Sie stand nur noch ein paar Schritte von Kiara entfernt. »Wer ist da?«
Kiara öffnete den Mund und wollte gerade etwas Dämliches wie »Na, ich« sagen, als sie den dünnen Silberfilm über den Pupillen der alten Frau bemerkte. Ihr Blick war starr geradeaus gerichtet und ihr ruhiges Gesicht wirkte nicht nur, als sähe sie in die weite Ferne, nein. Die Prophetin von Panna war blind.
»Ich ... ich bin Kiara Wilk«, stammelte sie nach einigen Sekunden des Schweigens. »Die Bürgermeisterin von Rys hat mich zu Ihnen geschickt, ich ...«
»Wilk ...«, unterbrach die Frau sie leise und fuhr mit dem Zeigefinger die Maserung ihres Stabes nach. »Wilk, Wilk, Wilk. Ich erinnere mich. Eine Familie voller starker und mächtiger Schattenläufer, doch dazu bestimmt, eines Tages sein Blut zu verlieren. Das Bluterbe der Wilks ist vergangen und doch klingst du für mich nicht älter als achtzehn. Sag mir, wie kann das sein?«
Konnte sie sich wirklich nicht mehr daran erinnern? Iskra hatte ihr mit ihrer Erzählung das Gefühl gegeben, dass die Prophetin genauso wie der Rest von Velryba wissen würde, was es mit ihr auf sich hatte. Allerdings war die Frau vor ihr wahrscheinlich Ende neunzig und konnte gar nicht mehr alles im Kopf behalten.
»Ich bin Iskra Wilks adoptierte Enkeln«, sagte sie daher so ruhig wie sie konnte, wenngleich die Worte ihr im Hals schmerzten. »Auf Ihren Rat hin sollte ihre Tochter mich vor Jahren aus Skalar holen.«
Das Gesicht der Alten erhellte sich, um im nächsten Moment wieder in sich zusammenzusinken. Sie strich über einen der Anhänger um ihren Hals. Kiara konnte nicht ganz erkennen, was es sein sollte, aber sie meinte, dass es sich bei dem großen, zur Hälfte aus Glas bestehenden Amulett um eines der begehrten Haarschmuckstücke handeln könnte. Wenn sie sich nicht irrte, schimmerte darin eine verblassende dunkle Haarlocke.
»Iskra ... oh, ja, nun weiß ich es wieder. Es ist lange her, dass ich dich das letzte Mal antreffen durfte, Kiara. Damals warst du noch unheimlich klein.« Sie warf einen Blick schräg an Kiara vorbei und in den Flur. »Sei doch so freundlich und schließe die Tür, ja? Du hast mir viel zu erzählen. Wie geht es der lieben Iskra? Ist sie noch immer so sturköpfig?«
Verdattert starrte sie die Prophetin an. Wie sie auf diesen Redeschwall reagieren sollte, verstand sie auch nicht ganz. Dennoch schloss sie gehorsam die Tür, obwohl nichts und niemand auf dem Gang zu entdecken war.
Die alte Frau humpelte währenddessen zu dem Sofa und ließ sich unter einigem Ächzen darauf sinken. Sie klopfte auf die Polster neben sich. »Setz dich, setz dich und erzähle mir.«
»Aber ... kennen Sie nicht sowieso schon jede Antwort auf Ihre Fragen?«
Die Prophetin schmunzelte und legte den Stab über ihre Knie. Ihre Kleider hatten sich wie ein Meer aus Stoff um sie herum ausgebreitet und ließen sie noch ehrerbietiger wirken. »Ich mag es, anderen zuzuhören und ihre Sicht der Dinge zu erfahren. Es wäre doch traurig, nur mit mir selbst zu sprechen. Zudem, Kiara«, ihre Miene wurde wieder ernster, »bin auch ich nichts weiter als ein Mensch. Welcher Mensch hört schon gerne die Wahrheit?«
Kiara blinzelte ein wenig und setzte sich dann auf den Boden. Sie wollte nicht neben einer Frau sitzen, die derartige Macht ausstrahlte und sie so irritierte. Es kam ihr nicht richtig vor. »Also ... Sie hatten nach Iskra gefragt. Hat sie keinen Kontakt zu irgendwem von hier gehalten?«
»Selbst, wenn sie es hätte, sicherlich nicht zu mir. Ich fürchte, sie macht mich für Lenkas Schicksal verantwortlich.« Die Prophetin schüttelte betrübt den Kopf. »Ich kann es ihr nicht verübeln. Würde deine Tochter auf eine gefährliche Mission geschickt und sie nicht überstehen, würdest du nicht auch dem Vorwürfe machen, der sie auf die Idee gebracht hat, überhaupt zu gehen?«
Die Stirn runzelnd nickte Kiara langsam. »Ja. Wahrscheinlich schon. Aber kommt es Ihnen nicht trotzdem falsch vor? Finden Sie, dass Sie zurecht beschuldigt werden?«
Auf diese Worte schwieg die Prophetin und musterte sie Kiara lediglich. Obwohl sie sie nicht ansehen konnte, spürte sie ein unangenehmes Prickeln auf der Haut und kaute auf ihren Fingernägeln herum. Es hätte nichts gebracht, aber sie wünschte sich dennoch, sich einfach unsichtbar machen zu können.
»Es ist nicht einfach«, sagte die Prophetin und erschreckte Kiara damit so sehr, dass sie zusammenfuhr. »Ich bin oft in meinem Leben beschuldigt worden. So ist es, wenn man eine ehrliche Antwort erteilt. Viele denken, die Zukunft könne sich ändern, wenn ich sie nicht ausspräche. Aber die Wahrheit ist unglücklicherweise, dass auch ich nicht die Ausmaße meiner Taten und Worte wissen kann. Ich beantworte die Frage, mit der man zu mir kommt. Ob die Antwort nun gut oder schlecht, unbedeutend oder gravierend ist, kann ich nicht sagen. Das ist nicht meine Aufgabe.«
Mit einem Mal wurden ihre Lippen dünne und ihre Schultern sanken herab. »Meine Schwester war begabter darin als ich. Sie hatte das Fingerspitzengefühl, derartiges abzuwägen und sich bedeckt genug zu halten, um dem Fragesteller zu zeigen, dass seine Entscheidungen ausschlaggebend sind. Mit dieser Fähigkeit bin ich nicht gesegnet.«
Kiara schluckte. Im Raum breitete sich eine Atmosphäre von Kälte und Einsamkeit aus. Sie konnte den Schmerz der Prophetin beinahe greifen. »War Ihre Schwester auch eine Prophetin?«
»Damals nannte man Menschen wie sie noch Mahner. Aber ja. Sie hätte die Größte von allen werden sollen.« Die alte Frau schloss die Augen und senkte den Kopf. Für einen Augenblick war die Ausstrahlung von Macht verschwunden. Vor Kiara saß keine mächtige Weissagerin mehr, die die Geschicke der Welt ergründen konnte. Aus dieser Frau war eine unglückliche alte Dame geworden, die in ihrem Leben viel gesehen und viel verloren hatte. Zu viel.
Dann war der Augenblick vorbei und um die Gedanken und Gefühle der Prophetin erhob sich wieder eine Mauer, so hoch und so dick, dass kein Mensch sie durchdringen konnte.
»Nun denn. Wir wollen ja nicht über mich sprechen, sondern über dich. Du hast viele Fragen, nicht wahr?« Kiara öffnete den Mund, da sprach sie schon weiter. »Ich kann sie dir beantworten. Aber bedenke, dass es stark auf die Formulierung der Frage ankommt.«
Sie zögerte. Augenblicklich tauchten so unheimlich viele Möglichkeiten in ihrem Kopf auf. Deswegen war sie ursprünglich nach Rys gereist. Sie hatte die Antworten der Prophetin hören wollen. Die Frau vor ihr war es, die ihr sagen konnte, wer ihre wirklichen Eltern waren. Warum sie in Skalar aufgefunden worden war. Was sie mit den Schatten zu tun haben sollte. Wie sie den Schattenkönig loswerden konnten. Was es mit diesen eigenartigen Wanderungen durch Raum und Finsternis auf sich hatte.
Zitternd holte Kiara Atem und senkte den Blick. Sie konnte die Prophetin nicht länger ansehen. Ihre Augen landeten auf dem Deckel des Buches, das sie mitgenommen hatte. Instinktiv hatte sie es auf ihren Kien abgelegt. Es war so dünn, dass man meinen könnte, es wäre noch nicht vollständig. Wenn sie über die Seite zwischen dem Einband strich, schätzte sie nicht mehr als dreißig. Unter ihren Fingern raschelte das raue Papier als wolle es ihr verheißungsvoll zuflüstern.
»Nur eine«, sagte Kiara schließlich und straffte die Schultern. »Ich möchte nur eine Frage stellen, Frau ...«
»Sag Sarin zu mir. Ich fühle mich immer viel zu respektvoll behandelt, wenn man mich siezt. Das ist nicht, was ich verdient habe.«
Obwohl sie nicht ganz zustimmen würde, beschloss Kiara, nicht weiter darauf einzugehen. Sie kannte die Frau vor sich nicht und es war unwahrscheinlich, dass sie einander jemals wieder begegnen würden. Ihre Geschichte würde ihr verborgen bleiben, ganz gleich, welche Neugier doch an ihr nagte.
»Na schön«, murmelte sie leise, ohne wieder aufzusehen. »Warum ich? Warum soll ausgerechnet ich dem Schattenkönig irgendwas bringen? Iskra hat gesagt, ich sollte aus seiner Reichweite gebracht werden, weil ich eine wichtige Rolle einnehmen würde. Aber ich habe keine Ahnung, was das überhaupt heißen soll. Ich kenne mich nicht mit dem Schattenlaufen aus und weiß so gut wie nichts über diese ganze Welt. Ich bin in diesem Bereich absolut nutzlos.«
Sie blickte schräg nach oben, musterte das Gesicht der Prophetin. Ihre Augen waren geschlossen und ihre Miene ausdruckslos. Sie hätte genauso gut eine sehr realistische Puppe sein können. Für einen Moment fragte Kiara sich, ob sie vielleicht eingeschlafen war und kniff die Augen ein Stück weit zusammen, um festzustellen, ob sie noch atmete.
Sekunden verstrichen und als die Prophetin ihre Augen wieder aufschlug, waren ihre Nerven bis zum Zerreißen angespannt. »Dein Blut, Kiara«, schwebte die Stimme der alten Frau durch den Raum wie das Rauschen des Windes, »ist auf eine Art und Weise gemischt, die nicht unter diesen Umständen hätte passieren dürfen. In der Vergangenheit ist eine schreckliche Tat von deinem Fleisch und Blut begangen worden, die nicht mehr auszugleichen ist. Der Fluch des Hexers aber hat dich verschont. Wenn die Schatten wieder zur Ruhe kommen sollen, musst es du sein, die ihnen die Tore öffnet und Velryba in eine neue Ära führt.«
»Aber wie soll ich das tun? Niemand kann die Schatten töten.«
Sarin blickte sie an und dieses Mal fühlte Kiara sich, als würde sie ihr geradewegs in die Seele starren, jeden ihrer Gedanken auffangen, jedes ihrer Gefühle am eigenen Leib spüren. Um ihren Lippen erschien ein bitterer und mitleidiger Zug. Die Prophetin von Panna schüttelte den Kopf und ohne, dass sie ihre Gedanken in Worte fassen musste, verstand Kiara, dass sie keine weiteren Hilfestellungen mehr erwarten konnte. Dieser Hauch von Wahrheit war alles, was sie bekam. So zornig es sie auch machte.
»Na schön«, presste sie hervor und stand ruckartig wieder auf. »Ich schätze, ich sollte jetzt wieder gehen. Die Reise nach Rys war mit Sicherheit anstrengend und es ist schon spät. Iskra macht sich bestimmt schon Sorgen um mich.«
»Ich sagte es dir bereits; meine Worte sind keine Lösungen. Sie sind Wahrheit, was du mit ihnen anfängst, liegt in deinen Händen. Ich habe keine Wahrheiten mehr für dich. Doch einen Rat kann ich dir geben, Kiara.«
Sie drehte sich von der Tür weg und ließ die Hand, die sie gerade nach dem Messingknauf ausgestreckt hatte, wieder sinken. Voller Erwartung sah sie zu der Prophetin. »Ich höre.«
Sarin seufzte. »Vor vielen, vielen Jahren waren meine Schwester und ich auf einer Reise. Wir suchten nach etwas, das unser Leid beenden würde, doch wir haben uns von unser beider Wut leiten lassen. Wir begingen einen Fehler und für diesen wurden wir – verdienterweise – härter bestraft als jeder Verbrecher dieser Erde vor uns. Ich beschwöre dich, lerne aus diesen Vergehen.«
Kiara legte die Stirn in Falten und presste die Lippen aufeinander. So langsam verstand sie, warum Iskra nicht sonderlich viel von der Prophetin hielt. Sie mochte vielleicht keine schlechte Person sein, doch nicht einmal ihr sogenannter Ratschlag brachte sie auf irgendeine Weise weiter. »Wie soll ich aus einem Vergehen lernen, von dem ich keine Ahnung habe?«
»Denk einfach an meine Worte. Das zu erzählen, ginge zu weit.«
»Dann hilft es mir nicht weiter!«
»Kiara«, die Stimme der Prophetin war noch immer derartig ruhig, dass man meinen könne, sie hätte all ihre Gefühle in dem Moment, in dem sie ihre Frage beantwortet hatte, weggeschlossen, »ich würde dir mehr sagen, wenn ich es könnte. Aber auch ich kenne meine Antwort nicht, bis du mir  die passende Frage stellst. Das, was damals geschehen ist, muss verborgen bleiben, bis es die Wege der Zukunft nicht mehr beeinflusst.«
»Das ist lächerlich.« Mit einem Ruck öffnete Kiara die Tür und schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nichts. In diesem Moment ist es wahrscheinlicher, dass ich dem Schattenkönig ohne es zu merken in die Hände spiele, weil mir niemand irgendwas erklärt. Das hat nichts mit Wegen der Zukunft zu tun. Ich werde einfach nur im Dunkeln gelassen!«
Wäre es im Raum nicht so still gewesen, hätte sie vermutlich nicht verstanden, wie Sarin murmelte: »Oh, Leijona.«
»Wie bitte?«
Die Prophetin zuckte zusammen und hob den Kopf wieder. Einen Moment lang sah sie verwirrt aus, als hätte man sie aus einem zu lebhaften Traum geweckt. Sie fuhr sich mit der Hand neben den Augen entlang, zeichnete die Falten nach, die Kiara auf den zweiten Blick als lange, nadeldünne Narben erkannte. Um ihre Finger und ihr Handgelenk schlang sich ein Verband. »Nichts. Entschuldige, ich verliere mich manchmal in der Zeit. Du hast mich gerade nur so sehr an meine Schwester erinnert.«
Kiara hob die Augenbrauen und schnaubte leise. »Die andere Wahrsagerin?« Ihr war klar, dass das keine sonderlich freundliche Aussage war, aber in diesem Moment kümmerte sie es herzlich wenig, was diese Frau von ihr dachte. Sie konnte ihr weiterhelfen, doch sie tat es nicht. Was hatte es da noch für einen Sinn, sie mit Samthandschuhen anzufassen?
»Nein.« Sarin schüttelte den Kopf und erhob sich langsam von ihrem Platz. »Nein, ich spreche von meiner anderen Schwester. Du bist ihr sehr ähnlich.«
Inzwischen war neben dem Fenster eine Laterne entflammt und war die letzte Lichtquelle des Raumes. Die Schatten wurden länger und Kiara fröstelte ganz automatisch. Nur zu lebhaft erinnerte sie sich an die Schatten. Ganz automatisch drehte sie an dem Lichtschalter neben der Tür. Mit einem Surren ging die Deckenlampe an. Ihr Licht war nur schwach und gelblich, aber es brachte etwas.
»Sie kennen mich doch gar nicht«, erwiderte sie dann.
»Nein. Aber vielleicht hast du mitbekommen, wie schnell man sich eine grobe Übersicht über die Persönlichkeit einer Person machen kann.« Langsam kam sie auf Kiara zugeschlurft. »Wir waren drei Schwestern, weißt du. Leijona und ich, wir waren immer die impulsiv Handelnden, die, die zu schnell urteilten, und es nicht gerecht fanden, dass man uns eine Aufgabe aufbürdete und erwartete, dass wir eine eigene Lösung finden würden, um sie zu bewältigen.«
Kiara verdrehte die Augen. Ging das schon wieder los? »Und was wollen Sie mir damit sagen? Dass ich nicht herumjammern soll?«
»Nein.« Die Prophetin von Panna blieb vor ihr stehen und sah zu ihr auf. Im gelben Lampenschein schien ihr Haar wie mit Gold bestäubt. »Ich verstehe, dass du dich nicht bereit fühlst und, dass du wütend bist. Aber erlaube auch mir einmal eine Frage. Was würde es ändern, zu wissen, wer deine Familie ist? Denkst du, es würde deine Persönlichkeit beeinflussen?«
Verdattert starrte Kiara sie an. Ihr Mund klappte auf und ohne, dass sie einen Ton herausbrachte, wieder zu. Sarin sah vollkommen ruhig aus. Weder ihr Gesicht noch ein Blick in ihre milchigen, von einem silbrigen Rand umgebenen Augen ließ darauf schließen, was die Prophetin vor ihr dachte. Was sie wirklich wusste und welche Meinung sie dazu hielt.
»Das ... darum geht es doch überhaupt nicht!«, brachte sie endlich hervor, jedoch um einiges zittriger und unsicherer als erhofft.
Ein kleiner Zweifel an ihren eigenen Worten erhob sich in Kiaras Gedanken. Ging es wirklich nicht darum? Wie würde sie damit umgehen, wenn ihre Eltern Standpunkte vertraten, mit denen sie nicht übereinstimmte? Wenn sie nicht mehr lebten oder zu den Schatten geworden waren? Warum war sie eigentlich so überzeugt davon, dass man sie zurückgelassen hatte, wenn es genauso gut sein konnte, dass ihre Eltern sich schlichtweg nicht um sie kümmern konnten oder sie verloren hatten?
»Mir hilft es immer, wenn ich nachdenken will, anderen Leuten zu helfen«, sagte Sarin, als hätte sie Kiara nicht gehört und den letzten Teil ihres Dialoges einfach übersprungen. »Vermutlich hast du recht und deine Freunde und Familie fragen sich, wo du steckst. Aber wenn du erlaubst, würde ich dir gerne noch etwas mitgeben.«
Kiara rührte sich nicht und gab keine Widerworte, was sie wohl als Zustimmung wertete, denn sie griff in ihren Nacken und löste den Knoten, der eine der vielen Lederschnüre zusammenhielt. Die Kette fiel in ihre ausgestreckten Finger und sie hielt sie ihr hin.
Es war nichts Besonderes. Das hellbraune Band sah nicht besonders neu aus, die Stelle, an der es geknotet worden war, war dünner als der Rest der Schnur. Als einziger Anhänger hing, eingefasst von schmutziger Bronze, ein Stein, der nicht größer war als Kiaras Auge. Auch er war voller Dreck und an vielen Stellen bereits verblasst. Unter der Staubschicht meinte sie, einen goldbraunen Schimmer zu sehen, doch vielleicht war es nur das Licht, das ihr einen Streich spielte.
»Ähm«, machte Kiara und legte die Stirn in Falten. Ob die Prophetin sich mit der Kette vertan hatte?
»Er wird dir mit etwas Glück einen Vorsprung geben, ehe du deine Fähigkeiten gemeistert hast.« Sarin schien nicht zu merken, wie verwirrt sie war und drückte ihr die Kette in die Hände. Ihre Haut war trocken wie Pergament und so dünn, dass Kiara ihre Fingerknöchel spüren konnte.
»Ah, ja ... Danke ... schätze ich.« Sie nahm sich vor, bald Iskra zu fragen, ob diese ganze Wahrsagerei womöglich einen Schaden im Gehirn der Prophetin hinterlassen hatte, und ließ die Kette in ihre Hosentasche gleiten. »Ich ... würde dann gehen. Auf Wiedersehen.«
»Sei achtsam, Kiara.« Sarin neigte ihren Kopf. »Denke daran, wer in der Vergangenheit nach Antworten über die Zukunft sucht, kann sowohl ein Genie als auch ein Narr sein.«

Tänzerin der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt