Dunkelläufer

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Die Fahrt war nach der Fahrt über die Ostsee mit Abstand das Schrecklichste, das Kiara je durchlebt hatte. Nächte des Hungers, des Vermissens und des Trotzes hatten sich nicht so schlimm angefühlt wie im Planwagen zu legen und jede Unebenheit im Boden wahrzunehmen.
Einmal hatte sie sich bei der Essensverteilung mit einem Jungen namens Carel unterhalten, der im selben Jahr wie sie selbst ins Heim gekommen war. Carel war zwei Jahre älter gewesen und hatte seine Eltern an einen schrecklichen Unfall in den Fabriken verloren. Seine drei Schwestern waren zum Onkel in die Stadt gezogen, ihn allerdings hatte man ins Heim geschickt. Sie waren nicht gemeinsam unterrichtet worden, denn Mädchen und Jungen waren streng getrennt worden, doch er hatte ihr davon erzählt, was es in seiner Klasse für Strafen gab, wenn man sich nicht benahm. Sechsmal hatte der Lehrer ihm mit dem Stock auf die Finger geschlagen, als er keine Ruhe geben wollte. Kiara hatte schreckliche Angst gehabt, sich ebenfalls eine Tracht Prügel einzufangen, doch wie sich herausstellte, hielt Fräulein Krysia nichts davon, ihre Schülerinnen zu verhauen. Stattdessen brummte sie ihnen Küchendienste und Aufräumarbeiten auf.
Dennoch konnte Kiara sich durchaus lebhaft vorstellen, welche Schmerzen Carel gehabt haben musste, als sie nun hoch und runter geschleudert wurde und immer wieder hart auf das Holz zurückprallte. Die Decken federten kein bisschen und das Fass polterte gegen ihre Knie. Die Bodenbretter wummerten gegen ihren Schädel und ließen nicht zu, dass sie einen einzigen klaren Gedanken fassen konnte. Schon bald fühlte ihr Kopf sich an als beinhalte er nur noch Brei.
Kiara unterdrückte Flüche, zischte vor Schmerzen, jammerte in ihren Gedanken wie ein kleines Mädchen und versuchte, sich auf jede erdenkliche Weise abzustützen, sodass sie weniger spürte, doch auf ihr unerklärliche Weise flog sie nicht auf. Von draußen hörte sie Stimmen, überraschte Rufe, das Trappeln der Pferdehufe und das Quietschen der Speichen. Wahrscheinlich waren sie noch immer in Królport unterwegs und das Kopfsteinpflaster machte ihre Reise so ungemütlich, aber Kiara hatte das Zeitgefühl verloren. Sie konnten ebenso fünf Minuten wie eine Stunde unterwegs sein. Für sie gab es nur den winzigen Augenblick, den sie hatte, um sich zwischen zwei Schlägen wieder zu sammeln. Inzwischen hatte sie sich die Lippe blutig gebissen.
Irgendwann wurde das Holpern erträglicher. Kiara nahm an, dass das entweder bedeutete, dass sie kein Wahrnehmungsgefühl mehr hatte, oder, dass sie sich inzwischen auf einer anderen Straße befanden, vielleicht sogar einem außerhalb der Stadt. Mit den Minuten, die sie zählend verbrachte, polterten die Räder seltener und die Ladefläche blieb größtenteils auf einer Höhe. Die Fahrt wurde etwas angenehmer.
Aus der puren Neugier, die eine hatte, die sonst nichts Besseres zu tun hatte, sah Kiara sich um und erforschte die Dinge, die mit ihr transportiert wurden. Neben den Decken und den Fässern, die ihr ihre Nische boten, fand sie abgedeckte Körbe voller Brot und getrocknetem Fleisch. Sie klaute sich einen Streifen in der Hoffnung, dass es ihr niemand übelnehmen würde. Sie hatte nichts in der Früh gegessen und fürchtete, ihr Magenknurren könne der Grund für ihr Auffliegen werden.
Dann kroch sie weiter, Kiara war etwas mutier geworden, wenngleich sie sich weiterhin hinter der Fässerwand hielt, um jeden, der möglicherweise hinter ihnen ritt, zu umgehen. Ein kleiner Kasten voller Verbände und Fläschchen, auf denen eigenartige Wörter standen, mit denen Kiara rein gar nichts anfangen konnte, und ein Stapel gusseiserner Laternen standen in der Ecke. Sie musste daran denken, dass der gesamte Wagen an den Seiten mit Laternen behängt war. Ob dies eine Form der Schattenabschreckung war?
Alles weiter vorne konnte Kiara nicht sehen, doch sie nahm an, dass es ähnlich weitergehen würde. Lebensmittel und warme Decken für die Flüchtigen, Arzneien, Dinge, die die Schatten fernhalten sollten, Wasser. Mehr brauchten sie nicht mitzunehmen.
Siedend heiß fiel Kiara auf, dass sie nicht den leisteten Schimmer hatte, wie lange sie nach Rys brauchen sollten. Womöglich würden es Tage sein, in denen sie sich hier verbergen musste. Sie wollte gar nicht wissen, wie das aussehen sollte. Schon jetzt merkte sie ihre Blase drücken, aber sie konnte ja schlecht fragen, ob sie kurz anhalten würden.
Hektisch wühlte sie in ihren Gedanken, ob irgendwer einmal die Entfernungen zwischen den beiden Städten erwähnt hatte.
Nichts. Alles, was Kiara wusste, war, dass der Botschafter von Panna die Stadt im Schweinsgalopp erreicht hatte, und der hatte mit keinem Wort gesagt, wie lange er dafür gebraucht hatte. So langsam wurde ihr immer bewusster, dass ihre überstürzte Handlung sie womöglich in einige Schwierigkeiten gebracht hatte. Sie murmelte lautlose Verwünschungen und schüttelte sich.

Tänzerin der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt