Es war Senara gewesen, die verhindert hatte, dass vollständiges Chaos im Arbeitszimmer ausbrach. Iskra war hochgeschossen, hatte den Mund geöffnet, doch noch ehe Kiaras Ziehgroßmutter etwas hatte sagen können, war die Hofherrin ebenfalls aufgestanden und hatte beschlossen, dass alle aufgeheizten Gemüter sich erst einmal beruhigen sollten. Danach, so sagte sie, würden sie weiterreden.
Ohne auf Aurinkos oder Iskras Widerspruch zu hören, hatte sie die die drei Frauen aus dem Raum gescheucht. Mit den Worten, dass es Zeit wurde, etwas zu essen, hatte sie die Tür hinter sich zugeschlagen.
In der Stille, die daraufhin gefolgt war, hatte Kiara versucht, nicht zu Fynn zu sehen. Noch immer wartete sie auf eine Reaktion seinerseits, doch gleichzeitig hoffte sie, dass sie nicht käme, bevor sie wusste, was sie tun sollte. Sie wollte ihm sagen, wie leid es ihr tat, was seiner Familie angetan worden war, dass sie verstand, dass er sie hasste und nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Sie würde versuchen, alles wieder geradezubiegen, auch wenn sie nicht wusste, wie das möglich sein sollte. Außerdem wollte sie ihm den Gedanken mitteilen, der sie quälte, seit sie Baldur Król gesehen hatte.
Wenn ein Rest der Schattenläufer noch in diesem Ungeheuer aus Dunkelheit weiterlebte, wenn ein Teil ihrer Erinnerungen noch vorhanden war, konnte es dann sein, dass diese Menschen möglicherweise zurückgeholt werden konnten? Konnte es sein, dass Iliana und Baldur Król zu ihrem Sohn zurückkehren konnten, eine zweite Lebenschance erhielten, wenn sie den König vernichten konnte?
Bei dem Gedanken begann Kiaras Herz hoffnungsvoll zu schlagen. Aber stopp, warnte sie sich und schüttelte den Kopf über ihre eigenen, hochgreifenden Vorstellungen. Als erstes musste sie es lebend in die Stadt schaffen. Dann konnte sie darüber nachdenken, was sie tun sollte, um dieses Monster von einem Mann aufzuhalten.
Geschmeidig und lautlos wie eh und je erhob sich Fynn von seinem Sessel. Er sah für den Bruchteil einer Sekunde zu ihr, zu kurz, als dass sie irgendetwas aus seinem Blick hätte lesen können. Er ging zur Tür und aus dem Arbeitszimmer, ohne einen Ton von sich zu geben. Einige Sekunden konnte Kiara ihm lediglich hinterherstarren. Beinahe hätte sie ihn zurückgerufen, gefragt, wo er hinwollte, bis ihr einfiel, dass er jedes Recht hatte, sie mit Ignoranz zu strafen. Wäre sie an seiner Stelle gewesen, hätte sie auch nicht mit ihm sprechen wollen.
Mit einem langen Seufzen ließ sie die Schultern herabfallen und plumpste zurück in die weichen, viel zu einladenden Sofapolster. Nun, wo sie allein war, überkam sie wieder die schreckliche, alles verschlingende Angst, die sie so krampfhaft hatte verbergen wollen. Ihr Atem blieb ihr die Kehle stecken und sie kniff die Augen zusammen, nur um vor der Dunkelheit dahinter zurückzuschrecken. Hastig schlug sie sie wieder auf, senkte die Augen auf ihre bebenden Finger hinab, die sich wie Krallen bogen.
Die Tochter eines tyrannischen Herrschers und einer Frau, die womöglich nicht mehr war als ein wortwörtlicher Schatten ihrer Selbst. Auf einmal machten die Worte, die Iskra ihr als ausweichende Antworten auf ihre bohrenden Fragen gegeben hatten, so viel Sinn. Es machte Sinn, dass Fynn sie aufgesucht hatte, erhofft hatte, dass die angebliche Retterin der Insel endlich bereit wäre. Es machte Sinn, dass die Schatten vor ihr zurückgeschreckt waren, dass der König von Anfang an hinter ihr her gewesen war.
Aber Kiara war nicht bereit. Ihre Großmutter hatte recht. Sie war ein Kind und ihre ungewöhnlich stark ausgeprägten Fähigkeiten als Schattenläuferin nicht mehr als ein Fluch, den ihr Blut mit sich brachte. Mit ihrer bloßen Anwesenheit hatte sie alle um sich herum hin Gefahr gebracht. Sie war der Grund, warum ganz Velryba nun drohte, in seinen eigenen Schatten zu ertrinken. Wie wahrscheinlich war es schon, dass sie gegen einen uralten, mächtigen Schattenhexer ankam?
Den Schatten auf dem Festland war sie entkommen, weil sie weggelaufen war. Iliana Król war zweimal von Iskra und einmal von Fynn – ihrem eigenen Sohn – zurückgeschlagen worden. Sie hatte sich von den Illusionen an der Nase herumführen lassen und konnte kaum die Hinweise, die ihr Theias und Ilianas Erinnerungen hinterlassen hatte, zusammenfügen. Ja, die Schatten mochten zögern, bevor sie sie angriffen, aber das machte es noch schlimmer. Wie sollte sie etwas gegen sie ausrichten, wenn sie wirklich aggressiv wurden? Nicht einmal in besänftigtem Zustand kam sie mit den Dienern der Dunkelheit zurecht. Das Einzige, was sie retten könnte, wäre ein Schattentanz, doch der wiederum laugte sie derartig aus, dass sie danach wehrlos wäre.
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Tänzerin der Schatten
FantasyEtwas bewegte sich in der Dunkelheit. Sie holte zitternd Atem. Ihr ganzes Leben lang hatte Kiara gesehen, wie Leute die Nacht und ihre Schecken fürchteten. Sie musste zugeben, für sie war die Nacht nichts gewesen, das ihr Angst machte. Im Gegenteil...