Kiara hatte damit gerechnet, dass der Raum hinter dem Wartezimmer in ähnlich schlichter Eleganz glänzen würde. Sie hatte erhofft, einen Blick auf weitere wunderschöne Bilder zu erhaschen, vielleicht ein paar Vorhänge und Fenster zu sehen. Doch sie sollte sich irren.
Als Rev sie durch die Tür zog, empfing Kiara zwar Einfachheit, hier hingegen hatte sich ein Chaos ausgebreitet, dass kaum noch zu überwinden war. Risse zogen sich durch die weißen Wände. An jeder freien Stelle stand ein Bücherregal, in dem sich Schriftrollen, verblichene Einbände und Papierstapel türmten. Schlecht zusammengeleimte Regalbretter voller kleiner Fläschchen, Verbandszeug und eigenartiger Apparate quetschen sich übereinander an freien Plätzen. Der Boden war zu großen Teilen freigeräumt, doch an mehreren Stellen bemerkte Kiara Flecken und morsche Stellen im dem dunklen Parkett. Der Kronleuchter an der Decke hatte früher vielleicht viel hergemacht, heute war er zu großen Teilen von Spinnweben bedeckt
Der Schreibtisch im Zentrum des Zimmers war genauso vollgestopft wie der Rest. Berge von Papier, Landkarten sowie Dokumente mit wertvollen Siegeln, aber auch einige Steintafeln flogen durch die Gegend. Schmutziges Geschirr stand an den Kanten, zum Teil schon bedrohlich hoch aufeinandergestapelt.
Inmitten des Durcheinanders saß ein älterer Mann, durch dessen blonde Haare sich graue Strähnen zogen. Er trug ein Monokel und tippelte nervös auf dem letzten freien Stück Holz herum, während er zusah, wie Kiara und Rev nähertraten. Er sah unheimlich müde aus, doch seine Sitzhaltung war gerade und seine Augen glommen vor Energie. Mit seiner bulligen Statur hätte er eher an eine Stahlschmelze als hinter den Schreibtisch gepasst.
Rev lächelte ihn an und schob Kiara auf den mit verblichenem Blumenmuster gepolsterten Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. Sie musste das Kinn recken, um über die Papierhügel sehne zu können.
»Vater, das ist Kiara Wilk«, stellte Rev sie dem Mann vor. Obwohl sie lächelte, meinte Kiara, eine gewisse Nervosität in ihrem Blick zu erkennen. Als wäre sie sich nicht ganz sicher, ob sie Kiaras Schulter loslassen konnte, ohne, dass ihr etwas zustieß. »Kiara, das ist mein Vater, General Ostrowski. Ich glaube, Arek und Fynn haben dir schon ein wenig über seine Aufgabe im Orden erzählt.«
Kiara blinzelte einige Male und versuchte, sich an die Details ihrer Gespräche mit den Jungen zu erinnern. Vage nickte sie. »Ja. Sie meinten, dass Sie dafür zuständig wären, den Leuten beizubringen, wie sie sich gegen die Schatten verteidigen können.« Sie hielt einen Moment inne und runzelte die Stirn. »So oder so ähnlich zumindest.« Erst da fiel ihr auf, dass sie sich gerade überaus unhöflich verhielt. Hastig streckt sie ihm die Hand hin und starrte ihre Finger konzentriert an, bis sie nicht mehr zitterten. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Ebenfalls.« General Ostrowski schüttelte ihre Hand so kräftig, dass sie glaubte, jedem Moment mit dem Kopf auf die Landkarte zu fallen, die vermutlich Velryba zeigen sollte. Der gesamte obere Teil der Insel war dunkel schraffiert, hier und da waren Stellen mit dunklen Kreuzen markiert worden.
Einige Sekunden lang herrschte ein unangenehmes Schweigen, als er sie wieder losgelassen und Kiara die Hand in ihren Schoß zurückgelegt hatte. Als es ihr zu viel wurde, konnte sie sich nicht mehr länger zusammennehmen. Der Schreck hatte sie stumm gemacht, doch die Aufregung ließ sie ungeduldig herumrutschen.
»Sie kennen also meine Großmutter?«, platzte es aus ihr heraus, ehe sie noch weiter darüber nachdenken konnte. »Kennen Sie dann auch meine Eltern? Kommen sie von hier? Wo sind sie? Was ist mit ihnen passiert? Sind sie auch Schattenläufer? Apropos Schatten, was hat es eigentlich mit diesen Schatten auf sich und warum haben sie uns angegriffen?«
Das höfliche Lächeln, das um die Lippen des Generals gezuckt hatte, als er sie begrüßt hatte, fiel in sich zusammen. Ein dröhnender Seufzer entwich seiner Kehle. »Revana, würden deine Mutter und du uns ein wenig alleinlassen?«, bat er seine Tochter. »Du hast gleich Unterricht.«
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Tänzerin der Schatten
FantasyEtwas bewegte sich in der Dunkelheit. Sie holte zitternd Atem. Ihr ganzes Leben lang hatte Kiara gesehen, wie Leute die Nacht und ihre Schecken fürchteten. Sie musste zugeben, für sie war die Nacht nichts gewesen, das ihr Angst machte. Im Gegenteil...