Als allererstes bemerkte Kiara an der Fremden, wie unberührt sie von all dem um sie herum wirkte. Während sie und Fynn beide staubig und verdreckt waren, sich kaum noch auf den Beinen halten konnten vor Erschöpfung und dank des beißenden Rauches Tränen in den Augen hatten, schwebte sie wie eine wunderschöne, sagenhafte Erscheinung über den schmutzigen Fußboden. Sie war noch kleiner als Kiara, geradezu lächerlich winzig, dennoch passte das hauchdünne Gewand ihr wie angewachsen. Obwohl es altmodisch aussah – Kiara schätze, dass es dem Stil entsprach, der Anfang des Jahrhunderts getragen worden war – hatte es keinerlei Gebrauchsspuren und umfing den Körper der Frau wie maßgeschneidert. Bestickt mit einem Meer von feuerfarbenen Edelsteinen und ausgestattet mit einer langen Schleppe, die sicherlich noch einmal so lang war wie ihr Gegenüber groß, musste es Unmengen an Geld verschlungen haben.
Noch schöner als das Kleid mit seinen flatternden Bändern oder die glimmenden Juwelencolliers um ihren langen Schwanenhals war allerdings die Trägerin selbst. Ihre bleiche Haut glänzte wie mit Perlmutt überzogen, sie hatte ein herzförmiges Gesicht, umrahmt von roten Löckchen, die sich aus ihrer edlen Frisur gelöst hatten, ohne ihre Schönheit dadurch auch nur minimal zu beeinflussen. Ihre Gesichtszüge waren königlich, erinnerten Kiara an die Zeichnungen, die sie in Büchern über Fabelwesen gesehen hatte. Ebenso wenig wie bei ihnen konnte sie die Frau auf ein Alter schätzen. Sie hätte ebenso Mitte zwanzig wie gerade einmal aus dem Alter eines Kindes entstiegen sein können.
Wie ein aus der Asche erhobener Phönix stand sie dort, die großen, schimmernden Augen erstaunt auf Kiara und Fynn gerichtet. Langsam machte sie einen weiteren Schritt auf sie zu, bei dem Edelsteinanhänger aneinanderstießen und Stoff raschelte. Wie war sie so lautlos in den Thronsaal gelangt?
Etwas an der Frau verwirrte Kiara, etwas, das nicht direkt damit zusammenhing, wie schön und geheimnisvoll sie aussah. Nein, es war etwas anderes. Sie erinnerte Kiara an jemanden, aber sie konnte sich nicht vorstellen, wer Ähnlichkeit mit jemand so umwerfenden haben sollte.
Ihre Augen blieben an einem der Steine hängen, der sich an einem Halsband aus hunderten kleinen Goldgliedern, die wie Zweige eines Baumes in verschiedene Richtungen abzweigten, festklammerte. An sich war er nichts Besonderes, er war durchscheinend und golden wie Honig, eingefasst von einem Ring aus hellblauen, kleineren Juwelen. Doch er übte eine eigenartige Anziehung auf Kiara auf, eine, die ihr Herz schneller pochen und sie nervös schlucken ließ.
Sie hob den Blick wieder und betrachtete das unnatürlich perfekte Gesicht der Frau, die ohne Zweifel eine Adelige sein musste. Die feine Stupsnase, der Schwung ihrer Lippen, die Art, wie sie sich bewegte und sie mit einem Hauch von Verwirrung betrachtete. Alles an ihr kam ihr bekannt vor. War sie vielleicht eine Illusion des Königs, die sie ablenken sollte? Kiara runzelte die Stirn und musterte die Frau genauer. Nein, das kam ihr nicht richtig vor.
Als sie einen unruhigen Seitenblick zu Fynn warf, wurde ihre Verwirrung noch größer. Ihrem sonst so gefassten Begleiter stand der Mund offen, er bemerkte nicht einmal, dass sie ihm den Ellenbogen in die Rippen stieß. Kiara unterdrückte ein Seufzen und sah zurück zu der Fremden.
»Woher kennen Sie meinen Namen?«, rutschte es ihr heraus, ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, was sie tun sollten, und wie um alles in der Welt jemand wie sie hier in der Stadt sein konnte.
Die Frau blinzelte und für eine Sekunde schwand die Irritation aus ihrem Blick, die Unsicherheit, dann kehrte sie wieder zurück. »Erkennst du mich nicht?«
Kiara schüttelte den Kopf, obwohl eine kleine Stimme in ihren Gedanken schrie, dass das nicht der Wahrheit entsprach. »Es tut mir leid, aber ich haben Sie noch nie in meinem gesamten Leben ...«
In diesem Moment kam Bewegung in Fynn. Er trat einen erschrockenen Schritt rückwärts als wären seine Gedanken erst jetzt in seinem Kopf angelangt, und zog Kiara am Arm mit sich. »Machst du eigentlich Witze?«, zischte er ihr zu. »Du hast in Rys gesagt, du hättest angefangen, die Biografie der Großherzogsfamilie zu lesen!«
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Tänzerin der Schatten
FantasyEtwas bewegte sich in der Dunkelheit. Sie holte zitternd Atem. Ihr ganzes Leben lang hatte Kiara gesehen, wie Leute die Nacht und ihre Schecken fürchteten. Sie musste zugeben, für sie war die Nacht nichts gewesen, das ihr Angst machte. Im Gegenteil...