Kiara wusste nicht mehr, wie sie es durch die Welt der Schatten schaffte. Sie wusste nicht mehr, wo sie gelandet waren und wie es ihr gelungen war, Fynn auf die Beine zu bekommen. Sie wusste nicht mehr, wie sie es zu dem kleinen, verschlafenen Dorf geschafft hatten und wie sie sich Aufmerksamkeit verschafft hatten. Alles, an das sie sich erinnern konnte, war, wie sie auf Fynns Ordensbrosche deutete und in den Armen von Fremden zusammenbrach.
Als sie wieder zu sich kam, hämmerte ihr Kopf und jeder Gedanke, den sie zu fassen versuchte, entfloh ihr wieder. Mit einem leisen Stöhnen schloss sie die Augen wieder und wandte den Kopf dem Sonnenlicht zu, das das Dunkel hinter ihren Lidern scharlachrot färbte. Die schwere Decke fühlte sich unter ihren Fingern rau und alt an, das Kissen in ihrem Rücken war viel zu weich, doch sie war ausnahmsweise einmal dankbar dafür, in den Daunenfedern förmlich zu versinken.
Zu ihrer eigenen Verwirrung spürte sie kaum noch Schmerzen in ihrem Hinterkopf. Ihr Hals mochte ausgedörrt sein und ihre Arme und Beine schmerzten als hätte man sie gedreht, doch das grauenhafte Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen, hatte sie losgelassen. Sie öffnete die Augen doch zur Hälfte und ließ den Blick verschlafen durch den kleinen, lichtdurchfluteten Raum schweifen.
Das Bett, in dem sie lag, nahm den Großteil des Dachzimmers ein. Die schrägen Wände waren mit verblichenen, blauen Blumenmustern tapeziert, die farblich zu den bodenlangen Vorhängen des Fensters passten. Eine niedrige Kommode, ein mit dreckigem Geschirr bedeckter Beistelltisch und ein ziemlich hässlicher, geblümter Ohrensessel rundeten das Bild ab.
Darauf saß Fynn. Eine Sekunde lang setzte Kiaras Herz vor lauter Schreck einen Schlag aus, dann bemerkte sie, dass seine Brust sich kaum merklich hob und senkte. Sein Kopf war ihm auf die Schulter gesunken und er schien tief und fest zu schlafen, aber sonst fehlte ihm nichts. Er trug seine mit Grasflecken verschmierten Klamotten aus Rys, nur die Schuhe hatte er ausgezogen, und wirkte auf sie, als hätte er einen langen Tag draußen auf dem Land verbracht und war nun über seinem Abendessen eingeschlafen.
Ein wenig musste Kiara schmunzeln, als sie seinen leicht geöffneten Mund und die zerzausten Haare sah. In diesen Momenten hätte sie gerne die Möglichkeit gehabt, eine Fotografie anzufertigen.
Möglichst lautlos setzte sie sich auf und sah an sich selbst herab. Ihre Strümpfe und Schuhe lagen neben dem Bett, ebenso wie die Hosenträger und ihre Weste. Erleichterung durchflutete sie. Auf eine seltsame Weise hatte sie die abgetragenen Stücke liebgewonnen und wollte sie nicht mehr hergeben. Das Hemd und die Hose trug sie noch, doch als sie ihren Kopf abtastete, fühlte sie einen dicken, weißen Verband um ihre Stirn und die Stelle, an der sie geblutet hatte. Als sie einen Blick auf ihren verletzten Arm erhaschte, zuckte sie zusammen und verzog das Gesicht, um einem Keuchen vorzubeugen.
Aus den schwachen roten Strichen, in die Arek die Wunde verwandelt hatte, war ein hässlicher, dunkler Ausschlag geworden, der juckte und brannte. Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in ihrer Brust aus, als sie die dünnen Äderchen bemerkte, die sich über ihre Haut zogen. Eilig krempelte sie den Ärmel ihres Hemdes herunter und bedeckte die Verletzung damit.
Der Lattenrost knarrte, als sie sich in eine für ihren Rücken gemütlichere Position begeben wollte, und riss Fynn aus dem Schlaf. Sein Kopf fuhr nach oben, er spannte die Schultern an und sah sich erschrocken um, bis sein Blick auf Kiara fiel. Mit einem tiefen Atemzug entspannte er sich wieder und kam zu ihr gelaufen.
»Du bist wach«, stellte er fest, ohne auch nur ein wenig müde zu klingen. Seine Augen blieben an ihrem Verband hängen, er runzelte die Stirn.
»Offensichtlich bin ich das. Du auch.« Sie für ihren Teil musterte seine Hände, die aussahen, als könnten sie nicht greifbarer sein. »Geht es dir wieder gut?«
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Tänzerin der Schatten
FantasyEtwas bewegte sich in der Dunkelheit. Sie holte zitternd Atem. Ihr ganzes Leben lang hatte Kiara gesehen, wie Leute die Nacht und ihre Schecken fürchteten. Sie musste zugeben, für sie war die Nacht nichts gewesen, das ihr Angst machte. Im Gegenteil...