Kiara taumelte vorwärts und griff verzweifelt in die Luft. Sie haschte nach etwas, an dem sie sich festhalten und orientieren konnte. Noch immer sah sie nichts, das Buch fiel klappernd zu Boden und als sie in die Richtung des Geräusches trat, rutschte sie aus, geriet ins Stolpern und landete mit einem erschrockenen Japsen auf ihrem Hintern.
Nicht zum ersten Mal war sie mehr als nur erleichtert, dass ihr Korsett noch immer im Heim lag. Normalerweise nahm sie es nur zum Stehlen ab, um nicht eingeschränkt zu sein. Nachdem sie allerdings nicht wieder zurückgekehrt war und keines in Królport erhalten hatte, war der Fall nun um einiges erträglicher, wenngleich der Schreck die Schmerzen schlimmer machte als sie waren.
Langsam klärte sich ihre Sicht wieder und Kiara sah sich hastig um, während sie gleichzeitig versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Obwohl ihr Schweiß den Rücken herunterrann, zitterte sie, als hätte sie die Grippe.
Sie hockte auf poliertem Holzboden und starrte eine Reihe von unterschiedlich alten Menschen an. Sie alle saßen auf stufenähnlichen Sitzbänken und musterten sie ähnlich erschrocken wie sie selbst dreinblickte. Ihr direkt gegenüber erhob sich ein Podest, auf dem ein Lehnstuhl stand. Die darauf sitzende, alte Frau hatte die Augenbrauen gehoben und die Lippen aufeinandergepresst. Der kreisrunde Raum war nach der Bibliothek ernüchternd klein, unter anderen Umständen allerdings großzügig bemessen. Vier große Fenster, zwei davon je parallel zueinander, ließen das rötliche Abendlicht hineinfallen und tauchten die Bänke in Flammenfarben.
Es herrschte Totenstille, bis sich jemand hinter Kiara überaus erbost räusperte.
Sie wirbelte herum, verrenkte die sich dabei einen Nackenwirbel und verzog das Gesicht. Einige Schritte hinter ihr saß ein Mädchen in ihrem Alter, ebenfalls auf dem Boden und funkelte sie aus zornigen, blauen Augen an. Sie trug ein weißes Unterkleid, das bis zu ihrem Nacken zugeknöpft war, sowie einen verblasst gräulich grünen Überwurf, der bestickt war mit tausenden kleinen Perlen und dessen Puffärmel ab ihrem Oberarm schmaler wurden. Im Gegensatz zu Kiaras Klamotten schmiegten sich ihre an ihren kurvigen Körperbau wie eine zweite Haut. Sie hätte wunderhübsch sein können, wären da nicht ihre verbundene Hand, der Bluterguss an ihrem Kinn und der abfällige Ausdruck in ihrem Gesicht.
Erst nach ein paar Sekunden verstand Kiara, dass sie das Mädchen umgerissen haben musste, als sie durch die Gegend gestolpert war.
Schon die Tatsache, dass unheimlich viele Blicke auf ihr ruhten und ihre Haut zum Kribbeln brachten, machte Kiara schrecklich verlegen, doch nun brannte auch noch Schuld in ihr. Sie lief rot an, schlug die Augen nieder kaute auf ihrer Lippe herum.
„Was sollte das gerade werden?", fuhr das Mädchen sie an und richtete sich wieder auf. Schimpfend und zeternd rückte sie ihre Kopfbedeckung, einen schlichten, weißen Hut, zurecht, und eine lange, zimtbraune Locke fiel darunter hervor. „Frau Bürgermeisterin! Ich verlange eine Erklärung dafür, was hier passiert, dass plötzlich Menschen auf uns herunterfallen!"
Kiara wagte es nicht, aufzusehen, doch die Frau auf dem Podium richtete sich zu ihrer vollen, beeindruckenden Größe auf und setzte gerade zu sprechen an, als sie unterbrochen wurde. „Ich befürchte, das ist meine Schuld, Lady Nosek."
Dem Blick der Bürgermeisterin von Rys – zumindest nahm Kiara an, dass es sich bei der Frau um diese handelte – folgend, entdeckte sie einen Bekannten, der neben ihr stand und den sie bei ihrem hektischen Rundumblick nicht bemerkt hatte.
General Ostrowski musterte Kiara sichtlich verwirrt, doch vermutlich wäre es den meisten nicht aufgefallen. Er wirkte noch mitgenommener als sie ihn heute Morgen kennengelernt hatte. Sein Monokel war fleckig und seine dunklen, an einigen Stellen blassblau akzentuierten Gewänder staubig. „Frau Bürgermeisterin, das ist Kiara Wilk. Die junge Dame, über die wir uns kurzzeitig vor dieser Versammlung unterhalten hatten."
Die Augen der Bürgermeisterin verengten sich. „Was hat das zu bedeuten, General? Sie hatten mir von einer Tochter Skalars berichtet, nicht von einem fliegenden Störfaktor."
Kiara zuckte zusammen und zog die Schultern hoch, gleichzeitig aber kam Widerwille in ihr auf. Die Stimme der Bürgermeisterin erinnerte sie an Iskra an ihren schlechtesten Tagen, daran, wie sie mit Menschen sprach, die sie nicht leiden mochte. General Ostrowski hatte ihr nichts getan. Er half mit seinen Leuten der Stadt dabei, die Flüchtigen aufzunehmen und beschützte sie. Warum sollte sie ihn derartig unfreundlich behandeln?
„Er kann nichts dafür." Einen Moment lang war sie verwundert darüber, wer gesprochen hatte, obwohl alle, die sie sehen konnte, den Mund geschlossen hatten. Dann bemerkte Kiara, dass sie es war, die das gesagt hatte.
Die Augen der Bürgermeisterin flogen zu ihr und betrachteten sie mit etwas, das man nur als offene Missgunst bezeichnen konnte. Sie sah genauso aus wie der Kutscher Arun. Wut und Abscheu verzerrten ihr Gesicht, nicht nur, weil Kiara ihre Runde gestört hatte, sondern besonders, weil sie mit etwas in Verbindung stand, das das Land beunruhigte. Doch von dort kam auch die Angst, die unter dieser Hülle lag.
„Ich weiß selbst nicht genau, was passiert ist", beeilte Kiara sich, weiterzusprechen, als sie merkte, dass es schon zu lange still war. „Mir wurde gesagt, ich soll in die Bibliothek gehen und dort auf jemanden warten, der mit mir üben soll. Aber nachdem ich noch allein war, habe ich ein bisschen gelesen. Dann war ich plötzlich hier. Ich wollte niemanden unterbrechen und ...", sie zögerte einen Moment und fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, einfach draufloszureden, ohne zu wissen, wie sie enden wollte, „und niemanden trifft eine Schuld, wenn es ein Unfall war. Es ... es ist doch nichts passiert, oder?"
Das Mädchen hinter ihr schnaubte und flüsterte eine Beleidigung, die so kreativ war, dass Kiara, die den Großteil ihres Lebens auf der Straße verbracht hatte, ihn noch nicht kannte.
Die Bürgermeisterin von Rys sah alles andere als begeistert aus und reckte das Kinn in die Luft. „Du hast eine Bittstellung aus Panna unterbrochen und willst mir erklären, dass du – einfach so – aus der Luft gefallen bist und nicht weißt, wie das passieren konnte?"
Kiara schluckte und stand langsam auf, da sie es doch etwas lächerlich fand, auf dem Boden herumzusitzen. Wenn Lady Nosek es so darlegte, klang es tatsächlich überaus lächerlich. Doch sie nickte und nach einem Räuspern brachte sie auch ein „Ja, Frau Bürgermeisterin, das will ich" heraus.
Lady Nosek, deren Name Kiara immer bekannter vorkam, verzog das Gesicht als rieche sie etwas überaus Unangenehmes. „Wir unterbrechen die Konferenz", beschloss sie nach einigen Sekunden. „Miss Wrona, Sie kommen morgen früh wieder, dann entscheiden wir, was wir mit den ... Überflüssigen machen."
Die Augen des Mädchens weiteten sich und für den Moment bröckelte ihre Fassade. Ihre Finger bebten und klammerten sich fester um den Stoff ihres Rockes. Sie öffnete die Lippen für einen Moment, setzte zu Widerworten an, doch ein Blick der Bürgermeisterin genügte, um sie zum Schweigen zu bringen. Sie schluckte, machte einen Knicks und rauschte an Kiara vorbei zu einer orchideenvioetten Tür, nicht ohne sie noch einmal hasserfüllt zu beäugen.
„General, Sie kommen mit mir und erklären mir, was das soll." Lady Nosek stieg mit raschelnden, byzantiumdunklen Röcken von ihrem Podium. „Du", sie deutete auf eine kleine Blondine nahe der Tür, die augenblicklich zusammenschrak, „bring das Mädchen zu den Gemächern der Prophetin."
Als sie den Raum verließ, folgte der General ihr und die übrigen Zuhörer erhoben sich von ihren Plätzen. Die meisten musterten Kiara aus dem Augenwinkel und unterhielten sich flüsternd, während die, die an ihr vorbeigehen mussten, den Blick gesenkt hielten.
Etwas stieß gegen Kiaras Schuhsohle und als sie zu Boden sah, entdeckte sie das Buch, nach dem sie instinktiv gegriffen hatte, ehe sie in die Dunkelheit gezogen worden war. Einen Moment lang zögerte, sie dann hob sie es hastig auf und drückte es an ihre Brust. Sie musste es dringend zurück zu Lasha bringen, bevor er noch Ärger bekam.
Neben ihr ertönte ein leises Hüsteln und als sie aufblickte, sah sie in das milchblasse Gesicht der Ratsfrau. Sie war vielleicht Anfang dreißig und hatte kugelrunde, anthrazitgraue Augen, die nervös umherhuschten. Sie trug überraschend viel schlichtes Wiß, auch das Violett ihres Schals war so hell, dass es beinahe weiß wirkte, und um ihre Mundwinkel zeichneten sich Sorgenfalten ab. Unter ihrer Schütze wölbte sich ihr Bauch. Sie sah Kiara über die Schulter, als traue sie sich nicht, ihr in die Augen zu sehen.
„Kassiopeia Jaskólski", stellte sie sich mit bebender, hoher Stimme vor. „Komm mit mir mit. Ich bringe dich zur Prophetin von Panna." Mit gesenktem Kopf und kleinen, aber schnellen Schritten, trippelte sie den letzten Schattenläufern nach. Rasch eilte Kiara an ihre Seite.
Sie gingen eine Wendeltreppe aus Stahl und Holz herab und traten wenige Minuten später ins Freie. Kiara brauchte einen Augenblick, ehe sie sich orientiert hatte und feststellte, dass sie am Fuße des Landkartenturmes standen. Sie blinzelte ins Abendrot und beschirmte die Augen mit der Hand. Am Rande des Platzes tummelten sich die verbliebenen Ratsmitglieder und unterhielten sich – noch immer leise – miteinander.
Als sie sich erneut umsah, bemerkte sie erst, dass Fräulein Jaskólski weitergegangen war, ohne einen Ton von sich zu geben. Kiara holte zur ihr auf und musterte sie nachdenklich. Sie war sich nicht ganz sicher, ob die Fahrigkeit der jungen Frau ihren Kern in der Angst vor der Bürgermeisterin oder vor ihr hatte.
„Was war das für eine Besprechung?", fragte sie in der Hoffnung, das unangenehme Schweigen zwischen ihnen zu brechen.
„Miss Wrona ist eine der Flüchtlinge aus Panna", sagte ihre Begleitung kurz angebunden und wich einer vorbeipreschenden Kutsche aus. Ob es bei dem Kopfsteinpflaster sonderlich angenehm war, in ihr zu fahren, fragte Kiara sich lieber nicht. „Rys ist die kleinste Stadt der sechs Hauptorte. Wir haben nur einen Fluss und weitaus weniger Gasthäuser als beispielsweise Fénix." Sie knetete ihre Hände und ließ die Schultern hängen. „Viele der Flüchtlinge finden keine Unterkunft und unsere Ärzte sind überlastet."
„Sie wollte mehr Hilfe erbitten?", tippte Kiara und runzelte die Stirn. Bei einer Frau wie dieser als Bürgermeisterin würde sie sich keine Hilfe erwarten.
Als hätte Frau Jaskólski ihre Gedanken gelesen sagte sie hastig: „Oh, die Bürgermeisterin will ihr helfen. Würde sie das nicht, wäre sie nicht in den Orden des Lichts eingetreten. Aber unsere Situation ist nicht einfach. Die Schatten sind überall, sie entführen Alte und Kinder, unsere Gelehrten. Wir wissen nicht, ob sie nicht eines Tages hinter die Mauern gelangen und uns von innen vernichten werden." Sie kaute sich auf der Unterlippe herum und seufzte unglücklich. Für einen Moment schien sie ihre Angst vor Kiara zu vergessen. „Weißt du, ich arbeite seit zehn Jahren als Protokollantin für den Stadtrat und ich habe mehr als genug solcher Verhandlungen gesehen. Die Menschen haben Angst und wer Angst hat, trifft oft lieber die härtere, aber für sich sicherere Entscheidung."
Kiara wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Nachdenklich blickte sie auf das Buch, das sie noch immer an sich gedrückt hatte. Es war eines von denen, die keinen Titel auf dem Buchrücken hatten, und auf den schwarzen Deckel war lediglich ein M abgebildet. Eigenartig.
„Frau Jakolski?", fragte sie zögerlich und sah wieder zu ihrer Führerin, die nach ihrem Redefluss eigentümlich still geworden war.
„Ja?"
„Warum soll ich zur Prophetin?"
Die junge Frau schüttelte den Kopf und kaute sich auf der Lippe herum, so ähnlich, wie Kiara es von sich selbst gewohnt war. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem aufwendig mit Flechtzöpfen durchzogenen Dutt gelöst und fiel ihr immer wieder in die Augen. Nach einer kleinen Weile, die Kiara jedoch vorkam wie eine halbe Ewigkeit, sagte sie sehr leise: „Ich bin mir wirklich nicht sicher, Miss Wilk. Damit kenne ich mich nicht aus. Aber ich würde raten, dass sie herausfinden möchte, was sie mit dir anfangen soll."
„Aber warum schauen mich alle so an?", bohrte Kiara entschlossen weiter. Sie hatte jemanden gefunden, der bereit war, ihr Fragen zu beantworten. Diese Gelegenheit ließ sie nicht verstreichen. „Es wird sicherlich nicht daran liegen, dass ich aus dem Nichts gefallen bin. Zumindest nicht nur."
Frau Jakolski wand sich und rang die Hände. Mit aufgerissenen Augen starrte sie Kiara an. „Aber weißt du das denn nicht?"
„Sonst würde ich ja nicht fragen. Ich weiß nur, dass die Tochter von Iskra Wilk mich auf den Rat der Prophetin aus Skalar geholt hat und dabei ums Leben gekommen ist. Ist es, weil ich aus der Stadt komme, die von Schatten bevölkert wird?" Sie wartete nicht auf eine Antwort, so sehr hatte sie sich bereits in Rage geredet. „Ich bin deswegen doch keine Gefahr! Ich kenne mich kein Bisschen mit dieser Welt aus, ich kann so gut wie gar nichts. Mich haben die Schatten ebenso angegriffen wie die Leute hier. Was soll an mir sein, das sie in Angst versetzt?"
Frau Jakolski öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Sie war vor einer Schenke stehengeblieben, deren Gästezimmer, wie eine handbeschriebene Tafel verkündete, voll belegt waren. „Ich ...", stammelte sie und wandte den Blick ab. „Ich glaube, das verstehst du falsch ..."
„Nein, ich verstehe es nicht falsch, widersprach Kiara stur. „Sie machen es genauso! Sie schauen mich nicht an und reden mit mir, als würden sie fürchten, dass ich jeden Moment explodiere. Sie sind viel älter und erfahrener als ich, was könnte ich ihnen schon tun?"
„A-also ..." Frau Jakolskis Stimme zitterte und ihre Augen huschten immer unruhiger hin und her. Obwohl sie größer war als Kiara, wich sie einen Schritt zurück und zog die Schulter hoch. Sie sah aus, als bräche sie jeden Moment in Tränen aus.
Kiara blinzelte irritiert. „Tut mir leid", setzte sie an. „Das war nicht böse ge ..."
„I-ich lasse dich jetzt allein. Frag nach der Prophetin und man wird dich zu ihrem Zimmer führen." Die junge Protokollantin fuhr herum und stürzte davon als jage sie der Teufel.
Kiara war so verwirrt, dass sie sich nicht bewegen konnte und ihr wortlos nachblinzelte. Erst, als sie um die Ecke gebogen war, rief sie reichlich verspätet: „Warten Sie! Ich wollte nicht ..." Die Worte verloren sich im Nichts und sie ließ den ausgestreckten Arm sinken. Mit einem Flimmern entzündeten sich die ersten Straßenlaternen und erhellten die beinahe menschenleeren Gassen.
Mit einem lauten Seufzen drehte Kiara sich zu dem Gasthaus um. Es war weiß getüncht und passte mit seinen Veilchenblumenkästen und den gleichfarbigen Fensterläden perfekt in das Stadtbild von Rys. Auf einem Schild über dem Eingang stand in geschwungenen, großen Buchstaben Zum Veilchen. Da hatte der Besitzer wohl einen besonders kreativen Tag gehabt. Ein Seufzen entwich Kiaras Kehle. Eine andere Wahl blieb ihr wohl nicht.
Mit hochgezogenen Schultern und hängendem Kopf trat sie durch die Tür in den lärmerfüllten, dämmrigen Raum.
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Tänzerin der Schatten
FantasyEtwas bewegte sich in der Dunkelheit. Sie holte zitternd Atem. Ihr ganzes Leben lang hatte Kiara gesehen, wie Leute die Nacht und ihre Schecken fürchteten. Sie musste zugeben, für sie war die Nacht nichts gewesen, das ihr Angst machte. Im Gegenteil...