»Kiara.« Ein Rütteln an ihrer Schulter, sie stöhnte leise und rollte sich fest zusammen. Die Matratze ihres Bettes fühlte sich ungewöhnlich hart an und sie konnte ihre Decke nicht spüren. War sie in der Nacht auf den Boden gekullert und hatte es nicht mitbekommen? »Kiara, wach auf. Wir sind fast da.«
»Hmmmmmm?«, machte sie verschlafen. »Was? Wo da?« Mit einem lauten Gähnen rappelte sie sich hoch und wollte sich gerade strecken, als ihr Ellenbogen gegen etwas stieß und mit einem verräterischen Klonk irgendwas umfiel. Ein Fluch ertönte und Kiara öffnete ein Augenlid zur Hälfte. Ihre Sicht war noch ganz verschwommen.
Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und blinzelte direkt in den Sonnenaufgang hinein. Das sanfte Schlagen der Wellen war so einlullend, dass sie beinahe wieder in den Schlaf geglitten wäre, wenn sie das Geräusch gemocht hätte. Plötzlich zuckte sie zusammen, realisierend, dass sie das Meer von ihrem Bett im Heim aus nicht hören konnte. Schlagartig riss Kiara die Augen auf und sah sich hektisch um.
Sie saß noch immer in dem Boot, von dem sie in der Nacht geträumt hatte. War es ein Traum gewesen? Wenn sie hier war, was sie unter normalen Umständen niemals tun würde, war dann auch alles andere Realität? Als sie ihre Großmutter – munter und wach, wenn auch angesäuert dreinblickend – entdeckte, hätte sie sich am liebsten gegen die Stirn geschlagen. Kein Traum.
Sie wandte den Kopf um und sah zu Fynn auf, der sichtlich unzufrieden auf eine Pfütze auf dem Boden vor ihm starrte. »Tja.«
Kiaras Herz setzte einen Schlag aus, die Übelkeit kehrte wieder zurück. »Haben wir ein Leck? Sinken wir? Warum habt ihr mich nicht sofort geweckt? Wir brauchen Hilfe!«
»Abgesehen davon, dass wir hier keine Hilfe bekommen werden«, stellte ihre Großmutter vollkommen ruhig fest, »haben wir kein Leck, Kiara. Du hast Fynns Flasche umgestoßen.«
Kiara blinzelte einige Male und spürte, wie sie rot anlief. »Oh.« So langsam musste sie wirklich daran arbeiten, ruhiger zu werden. Nur, weil das Meer sie beunruhigte, konnte sie nicht den ganzen Tag lang ein Nervenbündel sein.
»Wie lange habe ich geschlafen?«, versuchte sie, das Thema zu wechseln, während sie sich umblickte. Die Sonne glomm nur schwach durch die dicken Nebelbänke, in denen sie sich befinden zu schienen. Kiara konnte kaum weiter als ein paar Armlängen sehen. Das Wasser hatte einen gräulich rosafarbenen Schimmer, vermutlich die Spiegelung des Sonnenlichtes, gemischt mit dem Nebel.
»Ein paar Stunden«, gab Fynn zurück. Seine Augen waren klein und seine Stimme schleppend. Im Gegensatz zu ihr hatte er wohl keine Pause gemacht. »Wir sind gleich da. Nur noch eine Viertelstunde. Denke ich.«
»Wo genau ist eigentlich da?«, hakte Kiara nach, während sie sich wieder aufrappelte und so vorsichtig wie möglich auf die Bank setzte. Sie spürte, wie ihr Rock durchweichte und sich die Nässe ihre Beine hinaufzog. Daran hätte sie vielleicht vorher denken sollen.
»Habe ich doch gestern gesagt, Królport. Die Stadt hat den sichersten Hafen, liegt am nächsten und wir kommen direkt zum Orden.«
»Ich ... sag mir bitte, dass ich mir den Rest unseres Gespräches eingebildet habe.« Fynn zuckte nicht einmal mit der Wimper und sagte nichts mehr. Das reichte Kiara als Antwort aus. Sie drehte sich zu ihrer Großmutter um, die die Lippen gespitzt und eine unzufriedene Miene aufgesetzt hatte. »Warum hast du mir das nie erzählt?«
»Kiara, bitte.« Ihre Großmutter seufzte laut und schüttelte den Kopf. »Eine Insel, die unsere Heimat ist, deren Bewohner in der Lage sind, sich mit Illusionen zu verbergen und die Schatten auf unterschiedlichste Weise zu nutzen, bedroht von einem Mann, der sein Volk in Diener der Finsternis verwandelt. Warum sollte ich dir davon wohl nichts sagen, hm? Eine schwierige Frage.«
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Tänzerin der Schatten
FantasyEtwas bewegte sich in der Dunkelheit. Sie holte zitternd Atem. Ihr ganzes Leben lang hatte Kiara gesehen, wie Leute die Nacht und ihre Schecken fürchteten. Sie musste zugeben, für sie war die Nacht nichts gewesen, das ihr Angst machte. Im Gegenteil...