Als der junge Mann die Kirche betrat, zischte das Weihwasser bedrohlich. Doch außer ihm war niemand in der großen Halle, der es hätte bemerken können. Mit einem listigen Grinsen schritt er den Gang des Gotteshauses entlang, die Hände in den Hosentaschen. Die tiefschwarzen Augen blitzten entschlossen. An der Wand ihm gegenüber hing die lebensgroße Nachbildung eines spärlich bekleideten Mannes an einem Kreuz.
Er legte den Kopf in den Nacken. „Hast du es schon bereut, mich gehen zu lassen? Gemerkt, dass auch der Allwissende Fehler macht? Tut weh, nicht?"
Seine Augen wanderten die prunkvollen Verzierungen entlang. „Sieh dir an, was sie nicht alles für dich tun. Ist es nicht rührend?" Verächtlich spuckte er auf den Boden. „Aber das wird sich ändern. Alles wird sich bald ändern. Und es gibt nichts, dass es noch aufhalten kann."
Ein drohendes Grummeln zog sich wie ein Beben durch die Wände der heiligen Halle und die Lichter flackerten. Der Mann schnaubte verächtlich und einen Wimpernschlag später stand das Kreuz Jesu in lodernden Flammen.
Als der aufgebrachte Pfarrer aus der Sakristei stürmte, ließ der gefallene Engel gerade die schwere Tür hinter sich ins Schloss fallen.
Er sollte mit seinen Worten Recht behalten. Alles würde sich ändern.
Cadmiel fühlte sich unbesiegbar. Das, was zwischen ihm und Minou war, machte ihn unbesiegbar. Seine Kräfte waren vollkommen zu ihm zurückgekehrt. Mehr noch. Sie waren stärker geworden als sie es im Jenseits jemals waren. Und in jeder Minute, die er mit Minou verbrachte, mit jedem Lächeln von ihr und jedem Kuss spürte er sie wachsen.
Minou ging, wenn auch wenig motiviert, wieder ihrer Arbeit in der Redaktion nach und jeden Tag, wenn sie das graue Gebäude verließ, wartete Cad vor dem Eingang. Ihre gemeinsame Zeit war voller Leichtigkeit und Lachen. Seit Cadmiels Besuch in der Hölle hatten sie kein Wort mehr über das Jenseits, Gott oder den Teufel verloren. Zwar drängte sich die Frage danach immer wieder in Minous Bewusstsein, doch wollte sie geduldig warten, bis Cad bereit war, darüber zu reden. Das Jetzt war wunderschön, doch auch fragil.
Auch Cadmiel war dies bewusst. Deshalb schob er es auch vor sich her, Minou zu erzählen, was er in ihrer Abwesenheit tat. Er wusste nicht, wo Tradiaboli die Menschen auftrieb, doch alle paar Tage kamen sie in den Wald außerhalb der Stadt. Jedes Mal erzählte Cadmiel seine Geschichte und sie lauschten seinen Worten andächtig. Es waren alles Menschen, deren Seele ohnehin schon dem Teufel zugewandt war und die mit jeder Faser ihrer Körper an ihn glaubten. Trotzdem war Cadmiel nervös, bevor er das Verbotene tat. Auch wenn es keinen Unterschied machte, zitterte er, als er den Menschen seine Kräfte offenbarte. Sie waren voller Ehrfurcht und in diesem kurzen Moment konnte er Gott verstehen.
„Gott, der Teufel, das Jenseits. Sie existieren nur durch euren Glauben", hörte er sich sagen, was mittlerweile eine auswendig gelernte Rede war. „Ihr macht sie stark und deshalb ist der Teufel überzeugt, dass eure Seelen eine unglaubliche Kraft haben. Er kann euch zu Kriegern machen, wenn ihr eure Seele in seine Hand gebt. Und ihr, die auf der richtigen Seite des Glaubens steht, ihr werdet seine wichtigste Waffe in dieser Revolution. Es braucht euch, um das Übernatürliche auf die Erde zu bringen. Es wäre nicht richtig, den Menschen weiterhin das vorzuenthalten, was sie selbst geschaffen haben. Es liegt in eurer Hand."
Der Geschmack in Cadmiels Mund war bitter. Sie würden in den Tod gehen. Freiwillig, jedoch durch seine Worte. Gerade erst hatte er das Morden von Unschuldigen hinter sich lassen können, da klebte schon wieder Blut an seinen Händen. Er blieb nicht mehr lange. Tradiaboli würde sich um alles Weitere kümmern.Es hätte so weitergehen können. Die schönen Tage mit Minou durchbrochen von den vereinzelten Treffen mit den teufelsbesessenen Menschen. Cadmiel hatte sich an das schlechte Gewissen gegenüber Minou sowie an das mulmige Gefühl im Wald gewöhnt. Doch dann kam der Auftrag des Teufels. Eine Kirche sollte brennen. Und als Minou ihn fragte, ob er etwas damit zu tun hatte, wusste Cadmiel, dass es nur eine Frage der Zeit war bis sie auch die vermehrten Selbstmorde mit ihm in Verbindung bringen würde. Dann würde alles anders werden.
DU LIEST GERADE
Wenn Engel fallen
FantasiHimmel oder Hölle? Richtig oder Falsch? Vernunft oder Gefühl? Liebe oder Leben? - Wie würdest du entscheiden? ___ Seit Minou vor einem halben Jahr in die Stadt zog, um ihr Volontariat bei der örtlichen Tageszeitung anzutreten, läuft alles anders als...