Von Zufall und Wahrscheinlichkeiten

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Die Nächte waren zu Tagen geworden. Etwas hatte ihnen die Friedfertigkeit genommen. Während die Tage in zäher Erschöpfung voranschritten, man die Augen kaum geöffnet halten konnte, flogen die Nächte wie in einem Rausch vorüber. Minou war ständig auf Achse. Die Morde hatten sich gehäuft und doch war es schwerer geworden, sie zu verfolgen. Jede Nacht starb eine Frau an einem anderen Ort in der Stadt. Oder im Vorort. Letzte Nacht war es die Nachbarstadt gewesen. Zwanzig Kilometer weit entfernt. Da war der Verdacht aufgekommen, dass es sich nicht um einen Einzeltäter handelte. Es war eine Arbeit die gleichermaßen ermüdend wie spannend war und jedes anerkennende Nicken Fishers machte sie wett. Cad blieb ihren Gedanken dabei keineswegs fern, auch wenn sie beharrlich versuchte, ihn in eine der hintersten Ecken ihres Bewusstseins zu verdrängen.

Und, ohne es zu wissen, auch nur ahnen zu können, war sie Cad so nah. Jede Nacht schuf er ihre Geschichten. Die grausamen Wahrheiten, die ihr den Weg nach oben ebneten. Er war das Monster in ihren Erzählungen und das wusste er. Er las jeden ihrer Artikel am Kiosk und legte die Zeitung zurück, ohne sie zu kaufen. Sie ahnte von nichts. Sie war so unwissend wie jeder andere. Erleichternde Feststellung. Und doch verfolgte ihn das Wissen darum, dass sie wenig später von jeder seiner Taten erfuhr. Von jedem Leben, das er nahm. Zehn Frauen waren dem Teufel nun geopfert. Drei würden ihnen folgen. Und dann? Was war dann? Würde es ihm gelingen, die Hölle zu erreichen? Was würde aus Minou werden, wenn ihre große Story ein jähes Ende nehmen würde? Noch drei Frauen. Noch drei Nächte. Und dann war alles vorbei?


Die Nacht war von einer kühlen Taubheit, die sich schon lange durch Cadmiels Glieder gezogen hatte. Es war die Nacht, in der Nummer Elf ihr Leben lassen sollte. Cadmiel hatte sich nicht dazu aufraffen können, abermals die Stadt zu verlassen. Stattdessen suchte er die Bar auf, in der er nach der Nummer Sechs gesucht und Minou gefunden hatte. Es lag das Gefühl der Unvollkommenheit auf diesem Ort und Cadmiel wollte einen Abschluss finden. Sein Vorhaben beenden.

Entschlossen trat er ein. Er spürte, wie Köpfe sich zu ihm wandten. Flüchtige Blicke, ein Urteil treffend. Interesse. Abneigung. Gleichgültigkeit. Doch ein Blick blieb an ihm haften. Es waren die sanft braunen Augen eines Mädchens, das soeben noch gedankenverloren ihre Zigarette ausgedrückt hatte.

Sie hatte ihm so sehr gefehlt. Ohne, dass er es verhindern konnte, schoss dieses Gefühl in seinen Kopf. Er hätte versucht, sich zu wehren, doch ein Krieger weiß, wann seine Schlacht verloren ist. Und in diesem Moment wusste er es. Er wusste, dass er nicht gehen konnte. Sich dem Gefühl nicht entziehen konnte. Dass er nicht mehr auf die gleiche Weise fühlen konnte wie zuvor. Dass er nichts mehr wollte, als von dem Menschenmädchen geliebt zu werden. Und wie ihm dies bewusst wurde, so erfasste ihn die Verzweiflung mit ihrer ungnädigen Pranke, um ihn zu sich zu reißen. Er verharrte in der Tür, unfähig einen weiteren Schritt zu tun.

Ihr Herz hatte lange vor ihren müden Augen begriffen, wer da durch die Tür getreten war. Es pochte lauter und begieriger als sonst, da es den Mann erblickte, nach dem es sich so schmerzlich sehnte. Der Mann, der den Gedanken verboten worden war. Und ihre Gedanken, die seit Tagen von den Morden und Artikeln nicht ablassen konnten, hielten inne.

Und so hielt die Zeit an, nur für die beiden, nur für einen Moment. Und dann – weiter.

Cadmiel ging zu dem Tisch hinüber, an dem Minou saß und ließ sich gegenüber von ihr nieder.

„Bist du nicht zu hübsch, um so spät noch allein hier zu sitzen?", er grinste leicht.

Minou war erleichtert. Zwischen ihnen lag keine Schwere. Und wenn, so wussten sie, sie zu verstecken.

„Ich könnte dich dasselbe fragen."

Cadmiel lächelte anerkennend.

„Wieso bist du hier?", er griff nach ihrem Glas und leerte es in einem Zug. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Furchtbares Gesöff. „Arbeitest du gerade?"

Minou seufzte, dann nickte sie. „Ja, ich rede mir ein, dass es irgendetwas bringen würde, wenn ich die Abende in Bars verbringe... Dass ich dann vielleicht irgendwann auf den Mörder treffe." Sie lachte bitter. „Ganz schön verzweifelt, oder? Ich meine, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich ausgerechnet hier und heute auf den Mörder treffe?"

Cadmiel stellte das Glas zurück auf den Tisch. „Wahrscheinlich genauso groß, wie die Wahrscheinlichkeit, auf mich zu treffen." In seinen Worten lag kein Lachen, doch Minou schien es nicht zu bemerken.

„Genau", sie lehnte sich zurück und fuhr sich durch die Haare. Kurz ließ sie das Display ihres Handys aufleuchten. „Wahrscheinlich bekomme ich bald einen Anruf, dass in einer völlig anderen Stadt ein Mord stattgefunden hat. Dann kann ich mich auf den Weg machen und wenn ich eintreffe, ist am Tatort nicht mehr zu sehen als ein Absperrband." Sie klang frustriert. „Dann werde ich nach Hause fahren und einen Artikel schreiben, der dem vom Vortag noch mehr ähnelt als der vom Vorvortag und dann werde ich mich eine Stunde hinlegen, damit ich dann in der Redaktion weiterarbeiten kann." Ihr war nicht klar gewesen, wie frustriert sie wirklich gewesen war.

Cadmiel sah sie an. Er wusste nicht, was nun zu sagen war. Oder ob nach mehr Worte der Resignation folgen würden. Er wusste, dass er sich keinen Fehler erlauben durfte, der Minou mehr verraten würde. Der ihr auch nur einen Hinweis darauf geben würde, was wirklich in jeder Nacht geschah. Er konnte ihr nicht helfen. Nicht trösten. Auch wenn sich alles in ihm danach sehnte. Da war wieder das unkontrollierbare Zucken in seiner Hand. Er wollte ihre nehmen und sie halten. Nur das.

Minou erwiderte seinen Blick. Sie lächelte. „Danke. Es tut gut, dich hier zu haben. Nicht alleine auf den Zufall warten zu müssen." War es Zufall, dass sie sich nun nach vorne lehnte und ihre Hände auf die Tischmitte legte? Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass nun das verstoßene Himmelswesen nach der Hand des Menschenmädchens griff und ihre Herzen explodierten?

So wahrscheinlich wie die Tatsache, dass in dieser Nacht keine weitere Frau starb.

Wenn Engel fallenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt