Nächtliches Nichts

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In den letzten Tagen war Cadmiel in vielen Bars gewesen. Schließlich hatte er 13 Morde zu begehen. Die vielen Leute, ausgelassen und unvorsichtig – es war beinahe zu einfach.

Minou Cantrell hatte ebenfalls eine Bar aufgesucht. Nur trug sie kein Messer bei sich. Das Glas vor ihr, von dem sie sich geschworen hatte, es würde ihr letztes sein, war halb geleert. Sie bereute es jetzt schon. Kurz blickte sie auf ihr Handy. In weniger als fünf Stunden musste sie wieder in der Redaktion erscheinen. Der dritte Zug an ihrer Zigarette, dann drückte sie den Glimmstängel aus.

Es war halb vier. Für Cadmiel hatte sich diese Zeit bewährt. Die Frauen, die die Bar bis zum frühen Morgen nicht verlassen hatten, waren verzweifelt genug, um einem charmant lächelnden Fremden zu folgen. Er glaubte, sein Opfer bereits gefunden zu haben. Ein einsames Mädchen an der Bar, das mit glasigen Augen ins Nichts blickte. Er leerte sein Glas mit einem Zug und stellte es auf den Tresen. Dann ging er hinüber zu Minou Cantrell.

Sie, die als nächste sterben sollte.

Sie, die alles veränderte.


„Hallo", Cadmiel ließ sich neben dem Mädchen auf einem Barhocker nieder. Sie blickte ihn nur kurz an. Er sah ihres Erachtens zu gut aus, um jetzt noch alleine unterwegs zu sein.

„Bist du nicht zu hübsch, um so spät noch allein hier zu sitzen?", fragte er, was ihre Frage gewesen war.

Sie nahm den letzten Schluck aus ihrem Glas. „Ich könnte dich dasselbe fragen."

Cadmiel grinste. „Gut, dann lass uns das Problem lösen und die restliche Nacht gemeinsam verbringen."

Minou konnte ein trockenes Auflachen nicht unterdrücken. „Dafür hatte ich nicht annähernd genug von denen", sie deutete auf das leere Glas vor sich.

„Das lässt sich ändern", der Mann hob die Hand.

„Vergiss es", Minou war unschlüssig, ob sie die über die Dreistigkeit des Fremden lachen oder ihm gleich seine Bemühungen ersparen und die Bar zu verlassen sollte. Alleine, so wie sie es ohnehin tun würde. „Ich muss heute früh raus."

Cadmiel blickte zur Uhr. „Ich würde sagen, das bist du bereits", wieder lächelte er. Minou betrachtete ihn eingehend. Er hatte tiefliegende Augen von undurchdringlichem Schwarz und ebenso dunkles Haar. Sein Blick wanderte unaufhörlich von ihren Augen, zu ihren Lippen, zu ihrem Hals und wieder zurück. Er war so vielsagend wie er nichtssagend war. Es war kein Aussehen, das Vertrauen schenkte. Und dann waren da die Narben, die sich von unter seinem Shirt bis zu den Schlüsselbeinen empor ihren Weg bahnten. Noch nie zuvor hatte Minou Narben so offen gesehen. Es waren nicht wenige. Was dem verwegenen Fremden wohl zugestoßen war?

„Ich werde jetzt nach Hause gehen", sagte sie. „Alleine."

Cadmiel schien die Zurückweisung zu irritieren. Das Mädchen vor ihm war sicher nicht das richtige Opfer für diese Nacht. Sie würde nicht die Nummer Sechs werden. Und doch hatte sie etwas an sich, was ihn davon abhielt, sich abzuwenden und die Sechste zu suchen. Und ohne an das Messer an seinem Körper zu denken, an die schnelle Bewegung, mit der die Klinge leicht durch die dünne Haut des Halses schneiden konnte, erhob er sich gemeinsam mit dem Mädchen.

„Dann lass mich dich wenigstens nach Hause begleiten."


„Leute wie diesen Fisher sollte man einfach entlassen."

„Wäre einfacher, wenn er nicht der Chefredakteur wäre", erwiderte Minou verbittert.

Der Alkohol war nicht ohne Wirkung geblieben. Anders konnte sich Minou ihre Offenheit dem Fremden gegenüber nicht erklären. Es war dieses erleichternde Gefühl, all das, was sich seit den letzten zwei Monaten an Frust und Bitterkeit in ihr angestaut hatte, von der Seele zu reden. Und wer war da, um ihr diese Worte abzunehmen?

Nicht ihre sorgende Mutter bei den gelegentlichen Telefonaten.

Nicht ihre Mitbewohnerin und Kollegin, die trotz wachsender Freundschaft dennoch bloß eine Konkurrentin um die begehrte Festanstellung war.

Es war der Fremde, der sich ihr als Cad vorgestellt hatte und der sie mit einem simplen Spruch in ein Gespräch verwickelt hatte. Sie erzählte ihm von dem Volontariat, das als erster Schritt zum großen Traum begonnen hatte und sich als Hölle aus Erniedrigung und Stumpfsinn entpuppt hatte. Von dem gehässigen Vorgesetzten, der nicht endenden Arbeit und der aussichtslosen Suche nach der einen Geschichte, die all dies ändern würde. Und während sie erzählte war ihr nicht klar, dass genau diese Geschichte in diesem Moment neben ihr die schwach beleuchteten Straßen entlanglief und bei jedem ihrer Sätze zustimmend nickte.

Minou fühlte sich auf merkwürdige Weise wohl neben dem Fremden, von dessen Messer sie nichts wusste. In ihrer täglichen Arbeit mit Menschen war ihre Einsamkeit unerträglich geworden. Sie schrieb und schrieb, doch war ihr, als würden ihre Worte schweigen. Und nun war da Cad.

Sie standen vor dem Hauseingang. Vier Stockwerke unter der Wohnung, in der Minou lebte. Ein Haus wie jedes andere in der Stadt. An ihrem ersten Tag hier hatte Minou befürchtet, zwischen den Grautönen der Häuserfassaden das Richtige nicht zu finden. Auf absurde Art fühlte sie sich in diesem Moment an das Ende eines ersten Dates erinnert. Der Abschied und die Frage nach einem Kuss, die schwer in der Luft hing. Doch dies hier war kein erstes Date. Dies war die seltsame Begegnung zweier Fremden.

„Auch, wenn du mich jetzt – wohlbemerkt gegen meinen Willen – nach Hause begleitet hast, werde ich dich jetzt nicht hinaufbitten", sie lachte, wenn auch etwas unsicher. Ob der Fremde sich etwas Anderes erhofft hatte? Etwas Anderes erwartete?

Ein enttäuschtes Gesicht. Bloß gespielt. Minou war erleichtert.

„Unser Gespräch hat gut getan", sagte sie aufrichtig.

„Wahrscheinlich, weil es eher ein Monolog deinerseits war", lachte der Fremde.

Minou merkte, wie ihre Wangen zu glühen begannen, doch das schwache Licht der Straßenbeleuchtung offenbarte ihre Scham nicht.

„Gute Nacht, Cad", sagte sie also und verschwand in dem Haus mit der grauen Fassade.

„Gute Nacht, Minou."

Cadmiel blieb auf der Straße vor dem Haus stehen und legte den Kopf in den Nacken. Ein Fenster im vierten Stock erleuchtete. Er lächelte. In dem Moment, da er sich vom Haus abwandte, überkam ihn das kalte Gefühl der Realität. Es schauderte ihm. Das kühle Metall der Messerklinge wurde ihm schlagartig gewahr. In seiner Brust klopfte das Herz. Das menschliche Herz, das Blut durch den fremden Körper pumpte. Er war noch immer fasziniert von der Hülle, die er geschaffen hatte. Keiner hatte je bemerkt, dass sie nicht echt war. Die Menschen saßen neben dem Körper, der sich noch nicht anfühlte als würde er ihm gehören; redeten mit ihm, in einer Sprache, die er kannte, aber nie dachte sie je benutzen zu müssen; sahen ihm in die grünen Augen, die nicht seine waren; erwiderten das schiefe Grinsen, das sich immer noch neu anfühlte. Das Einzige, was ihm von zu Hause geblieben war waren Narben. Und dieser Körper, ihm weder fremd noch eigen, sehnte sich mit jeder Faser nach dem Menschenmädchen, das soeben verschwunden war. Minou. Paradies. Himmel. Ekel stieg wie brennende Galle in ihm hoch. Sie war ein Mensch. Ein verdammtes Menschenmädchen. Und doch... Er hielt inne, drehte sich zurück.


Leise – sie wollte Betty nichts erklären – schlich Minou durch die Wohnung. 4:08 Uhr zeigten die leuchtenden Ziffern ihres Weckers. Minou seufzte. Sie warf einen letzten Blick auf die Straße. Außerhalb des Lichtkegels der Straßenlaterne glaubte sie, eine dunkle Gestalt ausmachen zu können. Der Fremde? Cad? Die nächtliche Begegnung hatte sie in Verwirrung zurückgelassen. Sie kam ihr unwirklich vor. Als wäre sie bloß eine Erinnerung an etwas, das lange vergangen war.

Hier in der Stadt war der Himmel immer dunkel. Die Lichter am Boden ließen die Sterne verblassen. Wenn sie zuhause aus dem Fenster gesehen hatte, formten die Sterne Bilder. Bilder, die Minou glauben ließen, dass da draußen noch mehr war als eine dunkle Unendlichkeit.

Die Müdigkeit ließ ihren Blick verklären. Schwarzer Himmel. Dann ein plötzliches Aufblitzen. Blaues Licht. Größer als jeder der nicht sichtbaren Sterne. Wie ein Riss im nächtlichen Nichts. Flackernd – nur für den Bruchteil einer Sekunde. Schwarzer Himmel. Nächtliches Nichts.

Minou schüttelte den Kopf und zog den Vorhang zu. Überwältigende Müdigkeit.

Wenn Engel fallenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt