Als Minou die schwere Tür des Redaktionshauses aufstieß, riss die Müdigkeit sie beinahe von den Füßen. Es war nicht fair. All die zusätzliche Arbeit würde sie noch in den Erschöpfungstod treiben, bevor sie das zarte Alter von zwanzig erreicht haben würde. Und dann das Drängen Fishers, endlich die eine große Story zu finden. Sich endlich würdig zu erweisen. Mit Praktikantenaufgaben hatte er sie bis in die Nacht im Büro gehalten. ‚Wenn Sie ganz nach oben wollen, müssen Sie sich von dem Komfort fester Arbeitszeiten verabschieden, Cantrell.' Und nun begrüßte sie die Dunkelheit.
Ohne dass sie darüber nachdachte, begann sie in ihrer Tasche nach der Schachtel zu suchen. Wollte ihre Lungen mit vernebelndem Rauch füllen, ohne einen Zug der klärenden Nachtluft gewagt zu haben.
„Minou."
Der Klang ihres Namens ließ sie zusammenfahren. Auf dem Fußweg, im Licht der Straßenlaterne, stand Cad.
Der Fremde, den sie am gestrigen Abend vor ihrer Wohnung zurückgelassen hatte.
Der Fremde, dessen Nummer in ihrer Hosentasche wartete. Dessen Nummer sie nicht gewählt hatte.
Der Fremde, der kein Fremder mehr war.
„Cad?" Was war es, das in ihrer Stimme lag? Verblüffen? Freude? Ärger? Minou wusste es nicht.
„Du erinnerst dich also an mich", grinste Cad. „Nachdem ich vergeblich auf deinen Anruf gewartet habe, befürchtete ich, du hättest mich vergessen."
„Wie könnte ich ein Treffen wie dieses vergessen?", Minou lachte und ihr Lachen verwunderte sie. Es war frei und ehrlich. Was hatte dieser Mann, der da am Fuße der Treppe stand, an sich, dass sein bloßes Erscheinen ihr alle Last von den Schultern nehmen konnte? Unschlüssig verweilte sie noch immer an der Tür. Es konnte nicht richtig sein. Richtig wäre es, nach Hause zu gehen und Schlaf zu finden, bevor der nächste Tag sie tiefer zu Boden reißen würde.
„Du hattest einen langen Tag", Cads Augen blitzten im Licht, als er ihr seine Hand entgegenstreckte. „Darf ich dich nach Hause geleiten?"
So oft hatte Minou das Richtige gewählt. Vielleicht war es an der Zeit, dem Falschen eine Chance zu geben. Also nahm sie seine Hand. Nicht mehr als das.
Die Müdigkeit war nicht länger schwer, sie war nun süßer Nebel in ihrem Bewusstsein. Jeden anderen Abend, an dem sie von der Redaktion nach Hause gelaufen war, hatte die Müdigkeit sie blind gemacht. Nie hatte sie bemerkt, dass in der Nacht die Häuser nicht mehr grau waren. Sie waren Lichter in dem schwarzen Nichts der Dunkelheit.
Erfreut stellte Cad fest, wie die Angespanntheit von dem Mädchen abfiel. „Erzähl mir von deinem Tag. Was hat dein furchtbarer Chef dir heute angetan?"
Minou verzog das Gesicht. „Lassen wir das lieber. Heute bist sowieso du dran. Es besteht nach meiner alkoholbedingten Redseligkeit gestern Nacht ein gewisses Ungleichgewicht in dem, was wir über einander wissen."
„Weißt du, was ich hier vermisse?", fragte er unvermittelt. „Die Sterne." Er legte den Kopf in den Nacken, wo die Dunkelheit in die Unendlichkeit überging. Auf seltsame Weise war Minou als entblößen die Worte sie. Letzte Nacht war es noch ihr Gedanke gewesen. Jetzt gehörte er dem Fremden, der kein Fremder war.
„Ich vermisse sie auch", sagte sie leise.
Erstaunt sah Cad sie an. „Du kennst die Sterne?"
Minou runzelte die Stirn. „Wer nicht?"
„Ich habe die Sterne hier noch nie gesehen."
„Das liegt an den vielen Lichtern. Ich komme vom Land. Dort ist der Nachthimmel immer hell." Ohne dass es ihre Absicht gewesen war, hatte Minou dem Mann mehr von ihr offengelegt. Cad beobachtete aufmerksam jedes ihrer Worte.
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Wenn Engel fallen
FantasyHimmel oder Hölle? Richtig oder Falsch? Vernunft oder Gefühl? Liebe oder Leben? - Wie würdest du entscheiden? ___ Seit Minou vor einem halben Jahr in die Stadt zog, um ihr Volontariat bei der örtlichen Tageszeitung anzutreten, läuft alles anders als...