Zeugen

43 3 3
                                    

Minou konnte nicht anders, als sich immer wieder umzusehen. Sie war auf dem Weg zum Redaktionshaus. Zur Quelle der Informationen. Was sie brauchte, waren Tatsachen, um logische Schlüsse zu ziehen. Die Fakten würden ihr sagen, was zu tun war. Selbst wenn es bedeuten würde, dass sie alle ihre Überzeugungen vergessen und sich dem Übernatürlichen hingeben müsste. Cads Worte jedoch würde sie so oder so nie vergessen. Zu gerne wollte sie denken, dass er ein Spinner war. Aber das tat sie nicht.

Als sie das Gebäude betrat, überkam Minou sofort ein altbekanntes Gefühl, das sich auf ihren Schultern absetzte. Schwer und gleichzeitig mit Angst elektrisierend. Sie hasste es und sie hasste diesen Ort dafür. Auf dem Weg zu ihrem Büro traf sie einige ihrer Kollegen. Nicht einer grüßte sie. Das hatten sie nie getan. Anfangs hatte sie es darauf geschoben, dass sie bloß eine Volontärin war, doch dann hatte sie gesehen, dass es bei Betty anders war. Nein, sie war hier nie wirklich angekommen.

Genervt öffnete sie die Tür zu dem kleinen Büro, das sie sich mit Betty teilte und zog sie nach einigen Sekunden der Schockstarre mit einem Knall wieder zu. Fassungslos starrte sie auf die Tür vor sich, wollte nicht glauben, was sie gerade gesehen hatte. Fakten bringen die Antworten. Dann kochte die Wut in ihr hoch und sie stieß die Tür wieder auf. Schuldbewusst blickten Betty und Fisher sie an. Betty etwas schuldbewusster als ihr Boss. Ihr Lippenstift war verschmiert und ihre sonst so sorgfältige Frisur zerzaust. Einen Augenblick musterte Minou sie mit all der Verachtung, die in ihr entfacht war, dann ging sie zu Bettys Schreibtisch hinüber und griff nach einem Ordner, der ganz oben lag und das gestrige Datum trug.

„Lasst euch nicht stören", sie ging.

Vor der Tür blieb sie stehen, um dem Wortwechsel zu lauschen, der nun sicher folgen würde.

„Scheiße, das hätte nicht passieren dürfen. Sie wird es melden", hörte sie ihren Boss fluchen.

„Nein, bitte beruhig' dich. Glaub mir, das wird sie nicht tun. So ein Mensch ist sie nicht. Sie wird mich hassen, aber sie wird es nicht melden."

Minou ärgerte es, wie gut Betty sie doch zu kennen schien. Es stimmte. Melden würde sie es nicht, doch auch nicht verzeihen.

Den Ordner an ihre Brust geklammert, lief sie zurück zur Wohnung. Sie versuchte, nicht an Betty und Fisher zu denken, aber es gelang ihr nicht. Wie lange diese Beziehung wohl schon lief? Es würde zumindest erklären, warum Betty alles zuzufliegen schien. Die tollen Artikel und Chancen. Warum sie anders behandelt wurde. Ob diese Affäre wohl aus reinem Nutzen bestand oder Gefühle im Spiel waren? Es würde das Ganze etwas weniger erbärmlich machen.

In ihrem Zimmer setzte Minou sich an den Schreibtisch und begann durch den Ordner zu blättern. Viel war es nicht und wenig davon war neu für sie. Was sie interessierte, waren Zeugenaussagen und Polizeiberichte. Doch die Aussage der Polizeisprecherin, denn mehr war in dem Ordner nicht zu finden, war nicht besonders vielsagend. Sie wussten nichts und sie hatten keine Spur, mehr las Minou aus ihren Worten nicht heraus. Und sie begann sich zu fragen, ob nicht gerade diese fehlenden Spuren eigentlich die größte war. Hastig blätterte sie weiter zu einer Zeugenaussage. Die Worte der jungen Frau beschrieben ziemlich genau das, was auch sie gesehen hatte. Die großen Männer mit den langen Schwertern. Auch die Zeugin war der festen Überzeugung, etwas Übernatürliches sei im Spiel gewesen. So stand es auch in der nächsten Aussage. Und der übernächsten. Konnten so viele Augen irren? Immer mehr fühlte sich Minou in ihrer Sorge bestätigt, dass ihre Fantasie ihr keinen Streich gespielt hatte. Dass Cads Worte tatsächlich die Wahrheit waren. Die Menschen, die interviewt wurden, waren deutlich verwirrt. Alle suchten sie nach einer Erklärung. Minou hatte diese Erklärung und doch fiel es ihr schwer, sie anzunehmen. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen.

„Scheiße", flüsterte sie, als ihr klar wurde, dass ihr keine andere Wahl blieb.

Es klopfte an der Tür, kurz bevor diese geöffnet wurde. Betty trat in das Zimmer.

„Minou, ich brauche meinen Ordner wieder", ihre Stimme klang sanft, als wollte sie Minou nicht verschrecken.

Diese antwortete nicht.

„Komm schon, sei nicht sauer", Betty trat an den Schreibtisch heran. „Solche Dinge passieren."

Minou sah sie an. „Wirklich, Betty? Solche Dinge passieren? Und bestimmt ist es nur Zufall, dass der Typ, mit dem du schläfst, unser verdammter Boss ist."

Ihre Mitbewohnerin runzelte die Stirn. „Denkst du wirklich, dass ich mich deswegen auf ihn eingelassen habe? Damit ich bessere Chancen habe? Denkst du, dass ich so bin?"

Minou schnaubte verächtlich. „Ich denke nur, dass wir zwei Volontärinnen sind und es bloß eine Festanstellung gibt. ‚Verlieb dich bloß nicht. Eine Beziehung ist Gift für die Karriere' – das waren doch deine Worte, oder? In deinem Fall sieht es natürlich anders aus. Ich dachte, du würdest fair spielen."

Bettys Nasenflügel zitterten, die Worte klangen angespannt. „So ist es nicht."

Stumm hielt Minou ihr den Ordner hin. Sie wollte sich keine weiteren Ausreden anhören. Wusste Betty nicht, was sie ihr damit antat? Jegliche Hoffnungen auf die Festanstellung schienen jetzt dahin zu sein. Merkwürdigerweise schmerzte dieser Gedanke weniger als Minou es erwartet hätte.

Die Zeit war gekommen. Zu lange hatte er gezögert. Er sollte sein Kraft nutzen, solange er noch über sie verfügte. Wer wusste, ob seine Worte an Minou nicht bald etwas ändern würden. Cadmiel hatte den Tag im Hinterzelt des Trödelhändlers verbracht und auf die Nacht gewartet. Lange hatte er überlegt, war dann jedoch zu dem Schluss gekommen, dass es nicht nötig sein würde, ein weiteres Menschenleben zu opfern. Der Teufel hatte ihn bereits zu sich holen wollen. Tradiaboli und er hatten kein Wort gesprochen. Cadmiels Wiederkehr wurde lediglich mit einem Nicken bestätigt. Ob er wohl von dem gehört hatte, was letzte Nacht passiert war?

Es waren lange Stunden, die sich dort in der Dunkelheit nur noch länger zu ziehen schienen. Das Zelt wollte Cadmiel dennoch nicht verlassen. Die menschliche Hülle heilte nur langsam und er konnte die Blicke, die sein Erscheinen hervorrief, nicht länger ertragen.

Er dachte an Minou und konnte bloß hoffen, dass sie die Wohnung nicht verlassen hatte. Zwar wusste er nicht, was die Engel gewollt hatten, doch war er sich ziemlich sicher, dass sie es von Minou wollten. So gerne würde er sie in Sicherheit wissen, doch wo sollte das sein?

In dieser Nacht war jeder Handschlag von Enttäuschung und Angst getrieben. Konzentriert versuchte er, ein paar letzte schwarzmagische Objekte seinem Werk zuzuführen, als ein Knall unterlegt von Funken ertönte und eines in schwarzen Rauch aufging. Cadmiel stieß einen lauten Fluch aus. Ein Donnern ertönte und es war auf dem ganzen Markt zu hören. Tradiaboli stürmte ins Hinterzelt, wild gestikulierend. Doch Cadmiel bekam das alles kaum mit Alles was er sah, war das helle Licht vor ihm. Er hörte Stimmen. Er fühlte den Ort. Obwohl er erst einmal dort gewesen war, wusste er, dass es die Hölle sein musste. Vorsichtig schritt er nach vorne und streckte seinen Arm in das Licht. Im nächsten Moment musste er Zeuge davon werden, wie dieser seine eigentliche Gestalt annahm, die menschliche Hülle verließ und das wurde, was er Jenseits zu sein hatte. Ein gefallener Engel. Eine der hässlichsten Seelen im Himmel und der Hölle und in allem, was dazwischenliegt.

Cadmiel schloss die Augen und dachte an Minou. Dann schritt er in das Licht.

Wenn Engel fallenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt