Die Wahrheit

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Wie ein böser Traum lag die Nacht am nächsten Tag hinter Minou. Ihr erster Gedanke war, sich auf den Weg in die Redaktion zu machen und alles über die Geschehnisse der letzten Nacht zu erfahren. Darüber zu schreiben. Doch der Blick auf die Uhr verriet, dass es bereits zu spät war. Sie würde es in der Zeitung lesen können und die folgenden Artikel waren bereits in Arbeit. Stattdessen könnte sie sich die Decke über den Kopf ziehen und es hinter sich lassen. Wenn es denn nicht so real gewesen wäre. Wenn sie nicht noch immer das Gefühl der Klinge an ihrer Brust spüren konnte. Und die fremden Kräfte, die sie in Cads Arme gezogen hatten. Wenn sie vergessen könnte, wie er sie in der dunklen Gasse zurückgelassen hatte und wenn die Angst verschwinden würde. Noch immer schien das Adrenalin durch ihren Körper zu pumpen. Kaum konnte sie sich daran erinnern, wie sie nach Hause gefunden hatte. Sie griff nach ihrem Handy. 34 Nachrichten von Betty. Minou las sie nicht. Stattdessen rief sie an. Nur wenige Sekunden, dann hörte sie ihre Stimme.

„Oh mein Gott, Minou. Endlich! Es tut mir leid, ich war gestern Nacht nicht zu Hause, weil ich..." Sie brach ab. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Hast du schon gehört, was letzte Nacht passiert ist?" Ihre Stimme überschlug sich förmlich. „Geht es dir gut?"

„Betty, mir geht es gut", Minou bemerkte, dass noch immer ein Zittern in ihrer Stimme lag. Die Angst hatte sie nicht verlassen. „Erzähl mir alles, was man bisher über diese Nacht weiß."

Kurz stockte Betty. „Es ist, ähm - noch nicht so viel. Es war hier in der Nähe in einer Bar. Man weiß es nicht wirklich. Alle Zeugen scheinen irgendwie verwirrt. Viele werden noch immer vernommen. Anscheinend hat eine Gruppe Männer die Bar gestürmt mit Schwertern. Schwerter! Kannst du das glauben? Es gibt ein paar Verletzte und einen Toten. Und sie sind entkommen. Alle. Ohne Spuren. Kann man sich nicht vorstellen. Aber das Merkwürdigste kommt erst. Die Zeugen behaupten alle, dass es sich nicht um Menschen gehandelt hat." Sie machte eine eindrucksvolle Pause. „Sie behaupten, es wären übernatürliche Waffen gewesen mit Magie und sowas. Ich weiß auch nicht, aber das erschwert die Ermittlungen natürlich extrem. Die Polizei schiebt es auf den Schock, aber wirklich sicher sind die sich auch nicht, wenn du mich fragst."

Sie sollte es sagen. ‚Betty, ich war da. Es waren keine Menschen. Es stimmt.' Doch sie behielt ihre Worte für sich.

„Fisher hat mir ein paar bedeutende Artikel in diesem Fall übertragen. Ich habe hier auch gerade eigentlich wahnsinnig viel zu tun. Gleich kommt ein Zeuge zum Interview und ach ja, Fisher will wissen, wann du wiederkommst. Weißt du das schon?"

„Bald, mir geht es schon besser", antwortete Minou. „Danke dir." Dann legte sie auf.

Cad hatte von Engeln gesprochen. Minou schüttelte den Kopf. Doch es war nicht nur Cad. Die anderen hatten sie auch gesehen. Und Minou hatte es ebenfalls.

‚Sie sind hinter dir her', klangen Cads Worte in ihrem Kopf nach und eine warme Träne löste sich aus ihrem Auge. Was, wenn er die Wahrheit gesagt hatte?


Cadmiel lief durch die Stadt, in die ihn der Zufall gebracht hatte. Stundenlang. Er wollte nicht zum Trödelmarkt zurückkehren, doch er hatte nichts auf dieser Welt was einem Zuhause ähnlicher war. In der morgendlichen Dämmerung hatte er also den Weg zurück zum Markt eingeschlagen. War es ein Zufall oder hatten seine müden Beine ihn unbewusst den Weg durch die Straße gehen lassen, in der Minou wohnte? Er bemerkte es erst, als sein Blick das Haus streifte. Viertes Stockwerk. Hinter Minous Fenster brannte Licht. Cadmiel blieb stehen, sah sich um. Er sollte es nicht tun. Er hatte sie verletzt und zurückgelassen. Er hatte nicht das Recht, ihre Nähe zu suchen, mit ihr zu reden - für sie würde es alles nur schwerer machen. Vielleicht sogar gefährlich. Aber er war egoistisch.


Das Klingeln ließ Minou zusammenzucken. Sie sah auf die Uhr. Es war noch früh. Betty war in der Redaktion und besaß außerdem einen Schlüssel.

Wenn Engel fallenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt